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(2) An der Arglosigkeit fehlt es aufgrund der konkreten Tatsituation, wenn der Täter seinem Opfer vor dem Angriff „in offen feindseliger Haltung“ gegenübertritt.
Beispiele:
A fordert B in aggressivem Ton auf, nach draußen zu kommen, „um die Sache zu klären“.[18]
C droht D unter Vorhalt einer Pistole an, es werde „etwas Böses“ geschehen.[19]
E sticht auf F ein, nachdem dieser beobachtet hat, wie E unmittelbar zuvor den in direkter Nähe stehenden G in gleicher Weise attackiert hat.[20]
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Anders liegt es, wenn das Opfer die drohende Gefahr gleichwohl erst im letzten Augenblick erkennt[21] und ihm deshalb keine Möglichkeit mehr bleibt, dem Angriff zu begegnen.[22] Eine bloß verbale Attacke des Täters lässt die Arglosigkeit des Opfers regelmäßig ebensowenig entfallen[23] wie eine generell feindselige, zu einer lediglich latenten Angst führende Atmosphäre[24] oder ein beispielsweise berufsbedingt – etwa bei einem Polizisten – bestehendes allgemeines Misstrauen.[25] Anders kann es sein, wenn es bereits in der Vergangenheit zu massiven Tätlichkeiten und ernsthaften Todesdrohungen gekommen ist (vgl. aber Rn. 17 f.).[26] Auch wird ein Erpresser regelmäßig nicht arglos sein, wenn er seine Tat in direkter Konfrontation mit seinem Opfer zu vollenden versucht und deshalb mit einer Verteidigung gegen seinen rechtswidrigen Angriff rechnen muss.[27]
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Arglos kann ein Mensch schließlich auch (wieder) sein, wenn ein Angriff oder eine Drohung ihn zwar Übles seitens des Täters hatte befürchten lassen, dieses Szenario aber tatsächlich oder zumindest nach Ansicht des Opfers beendet ist.[28]
Beispiel:
A erdrosselt den von dem Angriff überraschten B. Zwar hatte A ihm die Tötung einen Monat zuvor angedroht, danach hatten beide jedoch wieder einen „normalen Umgang“ miteinander gepflegt.[29]
Beachte:
Bei der Prüfung der Arglosigkeit ist in der Regel auf den Zeitpunkt des Beginns des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs abzustellen. Es kommt also darauf an, ob das Opfer bei Eintritt der Tat in das Versuchsstadium (noch) arglos ist.[30]
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Eine Ausnahme wird insoweit zugelassen, wenn der Täter das Opfer nach einem wohlüberlegten Plan mit Tötungsvorsatz in einen Hinterhalt lockt, ihm eine raffinierte Falle stellt oder ihm verborgen auflauert.[31] Tritt er dem bis dahin arglosen Opfer nun in offen feindlicher Haltung entgegen, vermag dies an der listigen Ausnutzung der (ursprünglichen) Arglosigkeit nichts mehr zu ändern,[32] und zwar selbst dann nicht mehr, wenn das Opfer tatplangemäß zunächst noch ausgeraubt wird.[33] Ebenso verhält es sich, wenn bei einem zunächst allein auf eine Körperverletzung zielenden Angriff ein Wechsel zum Tötungsvorsatz derart schnell erfolgt, dass der Überraschungseffekt bis zu diesem Moment anhält.[34]
b) Wehrlosigkeit
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Wehrlos ist, wer zu seiner Verteidigung überhaupt nicht imstande oder mindestens in seiner Abwehrbereitschaft und -fähigkeit stark eingeschränkt ist.[35] Da es auf den Augenblick des Angriffsbeginns ankommt (vgl. Rn. 17), ist es für die Frage der Wehrlosigkeit ohne Bedeutung, wenn es dem Opfer im Verlauf eines Kampfgeschehens gelingt, doch noch Abwehrmaßnahmen zu entfalten[36] und ob diese erfolgreich sind.[37] Hingegen ist ein Mensch nicht wehrlos, wenn er von vornherein mit Aussicht auf Erfolg Verteidigungsmittel (z.B. Faustschläge)[38] einsetzen, Hilfe herbeirufen oder auch zu fliehen versuchen kann.[39]
Beachte:
Das Opfer muss gerade infolge seiner Arglosigkeit wehrlos sein, d.h. es bedarf insoweit einer ursächlichen Verknüpfung.[40] An dieser fehlt es etwa, wenn eine Abwehr infolge schwacher körperlicher Konstitution unmöglich ist.[41]
Beispiel:
B lässt sich von ihrer Bekannten A freiwillig an Armen und Beinen fesseln. Im Anschluss daran kommt A der Gedanke, B zu erdrosseln. Als sie ein Kopftuch mehrfach umschlägt, erkennt B das Vorhaben, kann sich dagegen jedoch aufgrund der Fesselung nicht wehren. – Eine heimtückische Tötung liegt nicht vor. Denn B ist zur Tatzeit zwar wehr-, aber nicht mehr arglos. Ihre ursprüngliche Arglosigkeit ist ohne Bedeutung, weil A – etwa bei der Fesselung der B – noch keinen Tötungsentschluss gefasst hatte.[42]
c) Versuche restriktiver Auslegung des Merkmals Heimtücke
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Die dargestellten Grundanforderungen (vgl. Rn. 9 ff.) reichen anerkanntermaßen nicht aus, um den Anwendungsbereich der Heimtückemodalität hinreichend einzugrenzen. Denn ein Täter wird dem vorgesehenen Opfer überwiegend gerade nicht offen entgegentreten, so dass derartige Tötungen in der Regel ohne weitere Differenzierungsmöglichkeit als heimtückisch zu bewerten wären.
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Dies aber entspräche nicht der gerade für das Merkmal der Heimtücke – und im Übrigen nur noch für die sog. Verdeckungsabsicht (vgl. Rn. 84 f.) – aufgestellten Forderung des Bundesverfassungsgerichts, Fälle mit deutlich vermindertem Unrechts- und Schuldgehalt, bei denen die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe unverhältnismäßig wäre, aus dem Mordtatbestand „herauszufiltern“.[43]
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Beispielsfall 1 – Tod im Wald:
Der Langstreckenläufer B absolviert sein abendliches Training in einem Waldgebiet. Dabei hört er Musik aus seinen Umgebungsgeräusche ausblendenden Kopfhörern und hängt seinen Gedanken nach. An einer Lichtung hat sich A in einem Gebüsch versteckt. Als B sich nähert, wird er von A mit einer Pistole erschossen. Diesem war klar, dass ihn der ihm unbekannte B aufgrund der Umstände nicht wahrnehmen konnte.
Strafbarkeit des A?
Lösung:
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A hat vorsätzlich einen Menschen getötet (§ 212 Abs. 1). Er könnte dies heimtückisch getan haben. Für andere Mordmerkmale – insbesondere für ein Handeln aus Mordlust (vgl. Rn. 55 ff.) – sind die Angaben im Sachverhalt dagegen nicht ausreichend. B war in der konkreten Situation arg- und infolgedessen wehrlos. Da A dies bewusst zur Tatbegehung ausgenutzt hat, sind die Grundvoraussetzungen einer heimtückischen Tötung (§ 211 Abs. 2; vgl. Rn. 9 ff. und 53) erfüllt. Deren weitergehende Anforderungen sind jedoch umstritten.
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