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In dieser Definition mittels Definitionslosigkeit scheint die metaphysische Tiefe des deutschen Staats- und Verwaltungsverständnisses auf. Konkretere Anhaltspunkte finden sich im positiven Recht. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass der Begriff des Verwaltungsrechts positivrechtlich unbedeutend ist. Der Gesetzgeber geht von der summa divisio des deutschen Rechts in Bürgerliches Recht, Strafrecht, und Öffentliches[283] Recht aus (§ 5a Abs. 2 des Deutschen Richtergesetzes);[284] das in jener Norm selbständig und zusätzlich erwähnte Verfahrensrecht wird gemeinhin dem öffentlichen Recht zugeordnet. Der Begriff Verwaltungsrecht findet sich, anders als etwa im französischen oder spanischen Recht,[285] nur an nachgeordneter Stelle als Teil des öffentlichen Rechts, etwa in den Verordnungen über die Juristenausbildung zwecks Beschreibung des Prüfungsstoffes. Da diese gesetzlichen Vorgaben auf dem Entwicklungspfad des deutschen Verwaltungsrechts aufruhen und zudem die universitäre Lehre und die entsprechende wissenschaftliche Lehrbuchproduktion ausrichten, kann man davon ausgehen, dass sie ein gutes Verständnis davon vermitteln, was zumindest den Kern dieses Rechtsgebiets ausmacht. § 8 Ziff. 9 der Juristenausbildungs- und Prüfungsordnung 2002 Baden-Württemberg etwa bestimmt als Gegenstand des Verwaltungsrechts: „Allgemeines Verwaltungsrecht und allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht (verfassungsrechtliche Grundlagen, Rechtsquellen und Normen des Verwaltungsrechts, Handlungsformen der Verwaltung, Teile I bis IV des Verwaltungsverfahrensgesetzes) ohne besondere Verwaltungsverfahren, Verwaltungsvollstreckungsrecht, Staatshaftungsrecht; aus dem Besonderen Verwaltungsrecht: Polizeirecht, Baurecht (Recht der Bauleitplanung, Zulässigkeit von Bauvorhaben, bauaufsichtsrechtliche Instrumentarien), Kommunalrecht (ohne Kommunalwahlrecht und Kommunalabgabenrecht).“ Weiter gelten, wie sich in der Schwerpunktausbildung zeigt, als verwaltungsrechtliche Materien das öffentliche Wirtschaftsrecht, das Umweltschutzrecht, das Recht des öffentlichen Dienstes sowie das Straßen- und Wegerecht als Kernmaterien.[286] Das Prozessrecht wird, entsprechend der Vorgabe des Deutschen Richtergesetzes, als eigenes Fach geführt, so dass § 8 der Juristenausbildungs- und Prüfungsordnung 2002 Baden-Württemberg in einer eigenen Ziff. 10 verlangt: „aus dem Verwaltungsprozessrecht im Überblick: Verfahrensgrundsätze, Prozessvoraussetzungen, Klagearten (einschließlich Normenkontrolle), Arten und Wirkungen von gerichtlichen Entscheidungen, vorläufiger Rechtsschutz“. Dies sind die Materien, die ein deutscher Jurist mit dem Begriff „Verwaltungsrecht“ assoziiert. Das Sozialrecht und das Steuerrecht, wenngleich durch einen gewaltigen Verwaltungsapparat angewandt, stehen allenfalls am Rande dieses Verständnisses; ihr Eigenleben zeigt sich nicht zuletzt darin, dass ihnen zwei eigene Gerichtszweige zugeordnet sind.[287]
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In vergleichender Perspektive ist an dieser Stelle festzuhalten, dass der deutsche Begriff des Verwaltungsrechts nicht, wie etwa nach der britischen „Red Light Theory“, auf das Recht beschränkt ist, das gegen die Verwaltung schützt.[288] Es ist nicht allein das Recht des gerichtlichen Rechtsschutzes, sondern immer schon das Recht staatlicher Regelung und Steuerung gewesen, auch wenn der Steuerungsaspekt oft weniger betont wurde. Es umfasst aber stets solche Normbestände, die nach europäischem Recht als Politiken bezeichnet werden, also auf Steuerung ausgerichtet sind.[289] Entsprechend unterscheidet man im deutschen Verwaltungsrecht zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen Verwaltungsrecht. Andere Traditionen bezeichnen hingegen nur diejenigen Normbestände, die das deutsche Verständnis dem Allgemeinen Verwaltungsrecht zuordnen, als Verwaltungsrecht, und adressieren Bereiche wie das Polizeirecht, Baurecht oder Umweltrecht als eigenständige Gebiete.
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§ 5a des Deutschen Richtergesetzes bestimmt das Verwaltungsrecht als Teil des Öffentlichen Rechts; der andere Teil ist, neben dem Prozessrecht, das Verfassungsrecht. Deutlich scheint hierin der Entwicklungspfad des deutschen Verwaltungsrechts auf, insbesondere seine Konstitutionalisierung ab 1949.[290] Ein Verwaltungsrecht ohne verfassungsrechtliche Grundierung, Durchdringung und Ausrichtung ist positiv-rechtlich nicht mehr denkbar.[291] Dies hat zur Folge, dass die Unterscheidung von Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht rechtspraktisch problematisch ist.[292] Natürlich kann man rechtsquellentheoretisch auf den Rangunterschied und den Vorrang der Verfassung abstellen, doch dieses Kriterium hilft bei dem praktischen Schlüsselproblem, der Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit angesichts der Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts, nicht weiter. Die Verschleifung der beiden Bereiche zeigt sich daran, dass es auf die rechtsquellentheoretische Differenz nicht ankommt.
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Für die eigene Kontrolle von (Verwaltungs-)Gerichtsentscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht die materiell-rechtlich ausgerichtete Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht“ entwickelt,[293] nach der es Entscheidungen der Fachgerichte nicht auf ihre Richtigkeit hin überprüft, sondern nur darauf, ob sie bei der Anwendung des einfachen Rechts Bedeutung und Tragweite der Grundrechte erkannt und zutreffend in Rechnung gestellt haben. Die Unterscheidung ist weiter im Rahmen von § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO von Gewicht, wonach die Verwaltungsgerichte nur für Streitigkeiten „nicht verfassungsrechtlicher Art“ zuständig sind. Dieses Tatbestandsmerkmal wird, das Bundesverfassungsgericht vor einer Prozessflut schützend, weit ausgelegt: Eine verfassungsrechtliche Streitigkeit wird nur dann angenommen, wenn der Rechtsstreit unmittelbar am Verfassungsleben Beteiligte betrifft und sich auf Rechte oder Pflichten bezieht, die unmittelbar in der Verfassung geregelt sind (sog. doppelte Verfassungsunmittelbarkeit). Zahlreiche Streitfragen mit verfassungsrechtlichen Bezugspunkten unterstehen damit den Verwaltungsgerichten.[294]
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Die definitorische Unfasslichkeit der Verwaltung und des Verwaltungsrechts ruhen nach herrschendem Verständnis auf der definitorischen Unfasslichkeit des Staates. Danach ist das Verwaltungsrecht das Recht der staatlichen Verwaltung. Von hieraus sei abschließend auf wesentliche Entwicklungen, ja Mutationen in unserem Gegenstand hingewiesen.[295] Man betrachte nur den Bedeutungswandel hinter dem bestimmten Artikel „der“. Ihm liegt die Vorstellung der Verwaltung als einer hierarchisch geordneten Einheit zugrunde, als die Verwaltung des (einsilbigen) Staates. Heute ist die Verwaltung aber, zunächst einmal allein organisatorisch betrachtet, allenfalls ein mehr oder weniger gut koordiniertes Gefüge.[296] Dies gilt bereits für staatliche Verwaltung in föderaler Aufstellung und verstärkt sich noch, zieht man Phänomene administrativer „Entstaatlichung“ durch Europäisierung und Internationalisierung hinzu. Die Verwaltung Deutschlands erfolgt heute, materiell wie organisatorisch, nicht allein durch deutsche staatliche Stellen und in den Bahnen des deutschen Rechts, sondern in erheblichem Maße auch durch supranationale sowie zunehmend durch internationale Stellen. Das Verwaltungsrecht wandelt sich damit im europäischen Rechtsraum von einer Teilmenge des staatlichen öffentlichen Rechts zu einem Rechtsgebiet, dessen konzeptionelle und akademische Verortung unsicher ist.[297] Bei aller Unsicherheit legt die deutsche Tradition des Verwaltungsrechts allerdings eines nahe: Seine Neubestimmung sollte als Teil einer Neubestimmung des öffentlichen Rechts erfolgen.[298]
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland › Bibliographie
Bibliographie
Otto Bachof, Die verwaltungsgerichtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung, 1951. |
Peter Badura, Verwaltungsrecht im liberalen und im sozialen Rechtsstaat, 1966. |
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