Die folgende Darstellung zielt nicht darauf, eine Übersicht über die ältesten Eheformen zu geben. Das altrömische Recht soll den Ausgangspunkt bilden, weil es die Möglichkeit eröffnet, einige Merkmale früher Rechtskulturen zumindest exemplarisch zu behandeln. Von Instituten wie patria potestas, manus oder tutela führt eine Linie zum Frühmittelalter über die Epoche der Aufklärung bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, als nach Inkrafttreten des BGB über das Fortleben einer manus- oder munt-Ehe (in § 1354) wieder lebhaft diskutiert wurde. Die Argumente der klassischen römischen Juristen kommen, soweit sie auf egalitäre Ansätze hinauslaufen, in den mittelalterlichen und neuzeitlichen Diskursen dagegen nur selten vor. Vereinzelt begegnen aber auch sie, und zwar vornehmlich bei Autoren der Aufklärungsepoche, die das Postulat der Gleichheit aller Menschen auf das Geschlechterverhältnis anwenden. Dieser Befund führt zu der grundsätzlichen Frage: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit es im Ehe- und Familienrecht zu einer Änderung überhaupt kommen kann? Lassen sich die Lehren von der Rechtsentstehung und den Rechtsquellen auch auf das Familienrecht ohne Weiteres anwenden? Die These ist, dass Gesetz und Gewohnheit hier oftmals in vertauschten Rollen auftreten.
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1.3 Reformforderungen zum Familienrecht: Rechtsquellentheoretische Aspekte
Was die Lehren von den Rechtsquellen anbelangt, so gibt es zwei Auffassungen, die bis heute spannungsreich geblieben sind. Danach ist zu unterscheiden zwischen Normen, die ‚von oben‘ kommen – die eine über der Gesellschaft stehende Autorität befohlen hat, und Normen, die unabhängig von irgendeinem dominierenden Willen, gleichsam spontan, ‚von unten‘ herauf aus der Gesellschaft wachsen. Seit der Antike pflegen Juristen diese unterschiedlichen Vorstellungen über die Rechtsentstehung mit der Einteilung in geschriebenes (scriptum) und ungeschriebenes (non scriptum) Recht zu veranschaulichen, wobei das ius scriptum dem Willen eines staatlichen Gesetzgebers und das ius non scriptum den Kräften der Gesellschaft Ausdruck verleihen soll. Als Beispiele für ein solches nicht vom Staat, sondern aus dem Kreise der Gesellschaft produziertes Recht wären zu nennen: das Gewohnheitsrecht, das von Verbänden in Satzungen autonom gesetzte Recht und das Juristen- bzw. Richterrecht, also vor allem das durch Interpretation gewonnene Recht.
Die praktischen Vorteile des Gewohnheitsrechts entsprechen nach allgemeiner Meinung den Nachteilen des Gesetzesrechts. Bereits der Redaktor des Allgemeinen Teils des BGB, Albert Gebhard, erkannte, „daß die Kodifikation eines Rechts nie eine vollständige sein könne, daß bei der Vielgestaltigkeit des Lebens fort und fort neue Verhältnisse entstehen“ und „daß die infolge dessen entstehenden Rechtslücken einer Ausfüllung“ durch Gewohnheitsrecht bedürfen. Durch Gewohnheitsrecht gewinnt die Rechtsordnung „an Elastizität und an der Fähigkeit, sich jederzeit alsbald dem Leben anschmiegen“ zu können (Gebhard, 1881, 83–86). Noch heute herrscht die Auffassung, dass größere Flexibilität, Sachnähe der Rechtsetzer und Akzeptanz bei den Betroffenen zu den Vorteilen des ungeschriebenen Rechts gehören (Nachweise bei Meder, 2009, 1–2).
Das ius non scriptum bildet also einen wichtigen Faktor bei der Anpassung des Rechts an veränderte Gegebenheiten. Die Frage ist nur, ob dies auch für das Familienrecht gilt. Einiges spricht dafür, dass die Gewohnheit hier eher eine beharrende Wirkung entfaltet und eine Anpassung an gesellschaftlichen Wandel mehr über Gesetzgebung erfolgt. Reiches
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Anschauungsmaterial für die retardierende Funktion des Gewohnheitsrechts bilden die Diskussionen, die römische Juristen der klassischen Epoche (2.3, S. 46) und Lehrer des Vernunftrechts im 18. Jahrhundert (4.2, S. 104) über die Frage geführt haben, wie die ungleiche Rechtsstellung von Frauen zu begründen sei. Auch in Ländern des Common Law, in England oder in den USA, erfolgte die Beseitigung rechtlicher Nachteile für Frauen meistens durch Gesetzgebung (6.3, S. 171 und 6.4, S. 179). In eine ähnliche Richtung weisen die Erwartungen, welche die deutsche Frauenbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit einer Reform der Zivilgesetzgebung verbunden hat (7.2.3, S. 196).2
Trotz der hervorgehobenen Bedeutung des Gesetzes lassen sich auch innerhalb der Frauenbewegung unterschiedliche Vorstellungen über die Entstehung des Rechts und seine Quellen feststellen. So hat z.B. Emilie Kempin in einer bemerkenswerten Schrift über das „ungeschriebne Recht“ 1897 ausgeführt, dass das Recht „immer dem Leben nachgeht“ – dass es ‚von unten‘ herauf aus der Gesellschaft wächst (7.3.2, S. 200). Von der Kontroverse über geschriebenes und ungeschriebenes Recht zu unterscheiden ist der Streit um die Politik der „kleinen Schritte“, den so verschiedene Gruppierungen wie die Stimmrechts- oder die proletarischen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert entfacht haben. Der Kampf
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um das Frauenstimmrecht, der in England oder in den USA bisweilen alle anderen Forderungen verdrängt hat (G. Bock, 1978, 7), beruht auf der Vorstellung, dass sich Rechtsänderungen zugunsten von Frauen am besten über den Einfluss auf politische Parteien verwirklichen lassen. Einmal gewählt, würden die Parteien dann für eine frauenfreundliche Gesetzgebung sorgen. Hintergrund ist also der Gedanke, dass Frauen über das Wahlrecht an staatlicher Gesetzgebung beteiligt werden würden (Nachweise bei Schüler, 2012).
Die Stimmrechtsbewegung ist sich dessen bewusst, dass das Wahlrecht auf einer anderen Ebene als Einzelforderungen zum Scheidungs- oder Güterrecht angesiedelt ist. Sie geht davon aus, dass das Allgemeine über dem Besonderen steht, das Wahlrecht also zwangsläufig zu Rechtsänderungen auf der konkreten Ebene führen würde. Diese Annahme ist durch die Wirklichkeit nicht bestätigt worden. Frauen wählten oft konservativ, so dass durch das Wahlrecht als solches für Reformen einzelner Regelungsgebiete zunächst nicht viel gewonnen war (Schnitger, 1990, 94–96; Molitor, 1992, 24; Bremme, 1956, 243; Falter, 1986, 83). Als ähnlich wirklichkeitsfremd hat sich die im 19. Jahrhundert durch die proletarische Frauenbewegung propagierte und nach 1917 zunächst in der Sowjetunion und später auch in anderen sozialistischen Staaten behauptete Lösung der „Frauenfrage“ durch einen Sieg im Kampf um die „Klassenfrage“ erwiesen. Der Etatismus tritt hier in Form einer Staatsdoktrin auf, welche dem Recht als Erscheinung des Überbaus jede selbstständige Bedeutung abspricht (zur proletarischen Frauenbewegung Szymanski, 2012).
Eine Alternative zur Politik der „großen Schritte“ bieten jene Teile der Frauenbewegung, die Reformen dort anstreben, wo das Recht das Leben von Frauen unmittelbar, häufig sogar existenziell berührt. Im Gebiet der elterlichen Sorge, der Scheidung oder des Güterrechts bilden oftmals konkrete Sachverhalte den Ausgangspunkt, welche die Folgen einer Ungleichbehandlung von Frauen im Familienrecht drastisch vor Augen führen. Die von Léon Richer (6.2.2, S. 168), Caroline Norton (6.3.4, S. 176) oder Charlotte Pape (7.1, S. 190) präsentierten Fälle haben nicht nur in der Öffentlichkeit große Wirkung erzeugt, sondern auch zu Reformen der Gesetzgebung geführt. Es handelt sich also um Forderungen, die in besonderem Maße dazu bestimmt sind, Kräften der
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Gesellschaft