Auch für Thibaut ist der Gedanke leitend, dass der Mann „mit seiner Familie in eben dem Verhältnis, wie der Regent zum Bürger, stehe“ (1803, § 307). Nicht die Ehe, sondern der Schutz des hilfsbedürftigen Individuums, für das der Staat mittels Institutionen wie „väterliche Gewalt“ oder „Vormundschaft“ zu sorgen hat, bildet den Ausgangspunkt seines öffentlich-rechtlichen Familienrechts.1 Folgerichtig gliedert Thibaut das „Polizey-Recht“ in zwei Hauptabschnitte, von denen der eine die „väterliche Gewalt“ und der andere die „Vormundschaften“ behandelt. Die Ehe unterfällt dem Abschnitt über die väterliche Gewalt, wobei das personale Verhältnis der Gatten vergleichsweise knapp erörtert wird. Thibaut meint, die Frau sei in der Ehe der „Gewalt“ ihres Mannes unterworfen und müsse „ihre Handlungen nach seinem Willen einrichten“. Auch
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von „ehelicher Vormundschaft“ ist die Rede: Ein solches Recht habe der Mann oft „nach deutschen Statuten“, doch sei „dies kein gemeines Recht“ (Thibaut, 1803, § 408). Worin der Unterschied zwischen ehelicher Gewalt und ehelicher Vormundschaft liegen soll, hat Thibaut leider nicht erklärt (dazu näher 7.4.1, S. 205)
Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) war bekanntlich der Gegenspieler Thibauts in dem berühmten Kodifikationsstreit, der im Anschluss an den Sieg der preußischen Truppen über Napoleon im Jahre 1814 ausgefochten wurde. Auch in der Einordnung des Familienrechts ist Savigny anderer Meinung als Thibaut. Für Savigny bildet das Familienrecht nämlich einen festen Bestandteil der Privatrechtsordnung. Bei genauerer Betrachtung ist der Abstand zwischen den beiden Gelehrten aber nicht so groß, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn „die Familienverhältnisse“ gehören „vorzugsweise dem jus publicum, d.h. dem absoluten Rechte an“ (Savigny, 1840, 350). „Jus publicum“ bedeutet für Savigny jedoch etwas anderes als „Öffentliches Recht“: Er begreift es als eigenes Strukturmerkmal, welches jederzeit und überall im Privatrecht vorkommen kann. Savigny behandelt das „jus publicum“ daher im ‚Allgemeinen Teil‘ seines achtbändigen „Systems des heutigen römischen Rechts“ vorab, und zwar im Abschnitt über die Rechtsquellen (1840, 57–66). Dies verdient Hervorhebung, weil bis heute die Auffassung herrscht, das Denken des 19. Jahrhunderts beruhe auf einer schlichten Zweiteilung, in welcher die Idee einer voraussetzungslosen (formalen) Freiheit im Privatrecht der Verwirklichung von Moral und Sittlichkeit im Öffentlichen Recht mehr oder weniger unverbunden gegenübertrete (Stolleis, 1996, 57; Renner, 2011, 18). Es ist sogar behauptet worden, die Rechtsdenker des 19. Jahrhunderts hätten im Banne des deutschen Idealismus die Unterschiede von Privatrecht und Öffentlichem Recht zu einer „apriorischen“, „jeder Rechtserfahrung vorangehenden“ Trennung stilisiert (Gagnér, 1967, 27, 29–36). Savigny jedenfalls war kein Anhänger solcher idealisierenden Unterscheidungen. Die Möglichkeit einer klaren Trennung von öffentlicher und privater Rechtssphäre hätte er abgelehnt.
Savigny meinte, dass die Familie „Grundlage einer neuen, ganz eigentümlichen Art von Rechtsverhältnissen“ ist (1840, 340). Er gilt heute als Begründer der wissenschaftlichen Disziplin des Familienrechts, weil er
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der Familie erstmals einen eigenen Standort innerhalb des Rechtssystems zugewiesen habe (D. Kennedy, 2003; 2010). Dazu bedurfte es der Abgrenzung zum Verkehrsrecht und der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Recht und Sitte. Was aber bedeutet „jus publicum“ und welche Rolle spielt es im Familienrecht? Savigny sagt, „jus publicum“ sei „absolutes Recht“, das mit „unabänderlicher Notwendigkeit“ herrschen solle, „ohne der individuellen Willkür Spielraum zu lassen“ (1840, 57). Das „jus publicum“ eröffnet dem Zivilrecht also die Möglichkeit, private Willkür zugunsten öffentlicher Belange zu begrenzen. Im heutigen Recht wird von einer solchen Möglichkeit vor allem dort Gebrauch gemacht, wo faktische Ungleichgewichtslagen im Rechtsverkehr zu Nachteilen für die „schwächere Partei“ führen können. Bekannte Beispiele sind die gesetzlichen Regelungen des Verbraucherschutzes oder die richterrechtliche Inhaltskontrolle.
„Jus publicum“ ist also zwingendes, der Privatautonomie entzogenes Recht, das wir als „ius cogens“ dem dispositiven Recht heute gegenüberstellen (Bextermöller, 1970, 53). Wer die Frage aufwirft, warum im Privatrecht solche Normen vorkommen, wird über Savignys Antwort überrascht sein. Denn allgemein herrscht die Auffassung, im 19. Jahrhundert sei das Recht von der Politik abgekoppelt und ganz auf seine ökonomischen Funktionsimperative beschränkt worden (Nachweise bei Renner, 2011, 20). Savigny aber hält solche zwingenden Normen gerade deshalb für so wichtig, weil über sie „politische und staatswirtschaftliche“ Gesichtspunkte in das Privatrecht einfließen. Erst an zweiter Stelle meint er, dass zwingende Normen im Privatrecht „auch unmittelbar in sittlichen Rücksichten“ Bedeutung gewinnen können (Savigny, 1840, 57).
Das besondere Merkmal des Familienrechts sieht Savigny darin, dass es im Vergleich zu anderen Gebieten des Privatrechts einen hohen Anteil zwingenden Rechts aufweist. Beispiele wären Monogamiegebot, Lebenszeitprinzip, Scheidungsvoraussetzungen, Namens- oder Adoptionsrecht, die alle dem ordre public unterliegen und privatautonomer Gestaltung entweder ganz entzogen oder nur in engen Grenzen zugänglich sind. Nun gehört das Familienrecht zu den Gebieten, in denen sich ein allgemeiner Wandel der Lebensverhältnisse besonders stark bemerkbar macht. Gemeinsames Merkmal dieses Wandels ist die fortschreitende
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Individualisierung und Pluralisierung der Lebensverhältnisse, wie sie in der abnehmenden Zahl von Eheschließungen, der Erleichterung der Scheidung oder der Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften zum Ausdruck kommt. Die Eingehung einer Ehe wird heute nicht mehr als Selbstverständlichkeit, sondern als Folge einer bewussten Entscheidung angesehen. Überhaupt sind in den letzten Jahrzehnten die Wahlmöglichkeiten und Entscheidungskompetenzen, wie etwa im Namensrecht, erheblich erweitert worden. Die Vermehrung individueller Gestaltungsmöglichkeiten hat aber nicht zu einer Verselbstständigung des Familienrechts gegenüber dem Öffentlichen Recht geführt. Die beiden Elemente, die nach klassischer Auffassung eine Verbindung zwischen Öffentlichem Recht und Familienrecht bewirken, nämlich „Familie als Keim des Staates“ und „Herrschaft“ oder „Ungleichheit“, sind in modifizierter Form noch heute virulent.
Was den Topos von „Familie als Keim des Staates“ anbelangt, so betont die neuere Literatur wieder die Bedeutung des Familienrechts für das „Allgemeinwohl“: „Indem sie Kinder“ hervorbringe, übernehme die Familie eine dem „Selbsterhalt des grundgesetzlich verfassten Gemeinwesens dienende Funktion“. Vor allem die aktuelle demographische Entwicklung biete einen Anlass, stärker die öffentlich-rechtlichen Aspekte des Familienrechts in den Blick zu fassen. Fragen des demographischen Wandels oder der Vereinbarkeit von Beruf und Familie könnten dem Staat nicht gleichgültig sein. Das Familienrecht müsse auch über Möglichkeiten der Steuerung von Verhalten durch Gewährung finanzieller Anreize nachdenken, damit sich wieder mehr Paare für Kinder entscheiden (Seiler, 2008, 1, 18). Derartige Bezüge von Familie und Staat scheinen heute also ‚neu entdeckt‘ zu werden. Auf ideengeschichtliche Hintergründe wird dabei, soweit ersichtlich, nicht Bezug genommen.
Der zweite Gesichtspunkt, nämlich „Herrschaft“ bzw. „Ungleichheit“ scheint obsolet zu sein, nachdem die männliche Eheherrschaft durch egalitäre Konzeptionen des Familienrechts heute weitgehend abgelöst wurde. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es „Ungleichheiten“ gerade im Zusammenhang mit der Betreuung von Kindern oder Pflege von Angehörigen auch heute noch gibt (9.4, S. 247). Nach dem verfassungsrechtlich verankerten Gleichberechtigungsgebot (Art. 3 Abs. 2
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Satz 2 GG) hat die Rechtsordnung für eine Kompensation von Nachteilen zu sorgen, die aus „rollenkonformem“ Verhalten resultieren. Die mit