Mit den Namen der folgenden Juristen verbindet sich der fast bis zum Ende der hochklassischen Zeit reichende Gegensatz der beiden Rechtsschulen der Sabinianer und Prokulianer. Anders als die meisten römischen Juristen stammt Sabinus nicht aus einer vermögenden Familie. Er muss von seinen Schülern unterhalten werden (D. 1.2.2.50). Sabinus steht in hohem Ansehen, obwohl er relativ wenig geschrieben hat. Sein Hauptwerk ist eine knappe Darstellung des Zivilrechts (iuris civilis libri tres), worauf die nachfolgenden Juristen ihre großen Kommentare gründen (S. 88). Das Haupt der rivalisierenden Schule heißt Prokulus (20 / 10 v. Chr.–50 / 70 n. Chr.). Er muss eine hervorragende Stellung in der Öffentlichkeit eingenommen haben (D. 1.2.2.52). Darüber hinaus ist kaum etwas über ihn bekannt geworden. Als Gründer der beiden Rechtsschulen nennt Pomponius Labeo und Capito:
Diese beiden begründeten als erste so etwas wie verschiedene Schulrichtungen. Denn Ateius Capito beharrte bei dem, was er gelernt hatte, Labeo dagegen mit seinem überragenden Verstand und im Vertrauen auf seine Bildung – er hatte sich auch mit den anderen Fächern der Wissenschaft beschäftigt – unternahm es, zahlreiche Neuerungen einzuführen (D. 1.2.2.47). [<<71]
Die Sabinianer und Prokulianer haben sich allerdings erst zwei Generationen später organisiert. Genau genommen waren Labeo, der als Schulhaupt der Prokulianer gilt, und Capito nicht Gründer, sondern geistige Ahnen der beiden Schulen. Die Frage nach den Eigenarten der Schulen ist bis heute ungeklärt. Offenbar handelt es sich weniger um Unterrichtsanstalten als um persönliche Vereinigungen führender Juristen mit ihren Schülern, die eine bestimmte wissenschaftliche Tradition pflegen. Die Kontroversen zwischen den Schulen beziehen sich vor allem auf Einzelfragen. Ob auch politische, philosophische oder methodologische Gegensätze eine Rolle spielen, ist nach wie vor umstritten. Berühmtes Beispiel ist die Kontroverse um die Frage, ob der Tausch ein Kauf sei (vgl. z. B. Gaius III, 139 – 141). Die Prokulianer verneinen dies, von Kauf sei nur zu sprechen, wenn Ware gegen Geld umgesetzt werde. Dagegen legen die Sabinianer den Akzent auf die Gemeinsamkeiten von Tausch und Kauf (S. 31), weil sie aus Rechtsschutzgründen auch das Tauschgeschäft den Kaufklagen unterstellen möchten. Ebenso hat der moderne Gesetzgeber entschieden (vgl. § 480 BGB).
6. Rechtsfortbildung durch Abbau von Förmlichkeiten
Der Abbau von Förmlichkeiten ist der gemeinsame Gesichtspunkt, unter dem sich die rasch anwachsenden Verflechtungen des alten ius civile mit den Rechtsschichten des ius honorarium und des ius gentium betrachten lassen. Ein Beispiel aus dem Sachenrecht bildet die formfreie Übergabe (traditio). Eine solche Übergabe ist seit alters möglich für Gegenstände, die nicht im Wege der mancipatio übereignet werden müssen (res nec mancipi) oder im Verkehr mit Nichtbürgern (S. 32). Die traditio verschafft dem Erwerber das Eigentum, wenn sie vom Eigentümer ex iusta causa, d. h. aus einem Rechtsgrund geschieht, welcher die Zuwendung des Eigentums rechtfertigt (z. B. Kauf, Schenkung oder Darlehnshingabe). Zunehmend bedienten sich auch römische Bürger der traditio. Sie wurde zum Übereignungsgeschäft des Alltags. Die mancipatio verlor dadurch an Bedeutung, blieb aber bis ins 4. Jahrhundert n. Chr. erforderlich für die Übereignung z.B. italischer Grundstücke. Noch tiefgreifender [<<72] waren freilich die Umwälzungen durch den Abbau von Förmlichkeiten im Vertragsrecht.
Das Ergebnis jenes langen Weges, den die Entwicklung des römischen Vertragsrechts zurücklegen musste, haben die Institutionen des Gaius in dem bekannten Schema re, verbis, litteris und consensu zusammengefasst (Real-, Verbal-, Litteral- und Konsensualvertrag). Ein Realvertrag kann durch jede Geld- oder Sachhingabe begründet werden, die den Empfänger zur Rückzahlung oder Rückgabe verpflichtet. So nennt Gaius etwa das Darlehn als Beispiel für einen Realvertrag. Die stipulatio hat als mündlicher Vertrag im Schema des Gaius unter verbis ihren Platz gefunden. Hier erzeugt die Einhaltung der rituellen Wortform die rechtliche Bindungswirkung (S. 38). Der Litteralvertrag ist dagegen ein Geschäftstyp, wo die Verbindlichkeit durch einen Schriftakt (littera, Buchstabe), etwa durch Eintrag eines Ausgabepostens und des Namens des Zahlungsempfängers im Hausbuch (codex accepti et expensi) des Gläubigers begründet wurde. Bei den Konsensualkontrakten gilt der formfrei erklärte consensus, die Willenseinigung, als Verpflichtungsgrund. Allein kraft Konsens sind verbindlich: Kauf, Miete, Pacht, Dienst- und Werkvertrag, Gesellschaft und Auftrag.
Im römischen Vertragsrecht kann also nicht aus allen, sondern nur aus solchen Verträgen geklagt werden, die in das Schema aufgenommen sind (Enumerationsprinzip). Eine bloße Vereinbarung (pactum nudum) erzeugt als solche keine Rechtsverbindlichkeit. In dem Wort „Pakt“ schwingt bisweilen noch mit, dass es sich hier um Vereinbarungen handelt, die rechtlichen Schutz nicht in Anspruch nehmen können (z. B. „einen Pakt mit dem Teufel schließen“). Als gemeinsame Grundlage der Verbal-, Litteral- und Realkontrakte erscheint der übereinstimmende Wille der Parteien. Fehlt er, so kann eine Vereinbarung keine Rechtsverbindlichkeit erzeugen. Allerdings vermochte die allgemeine Kategorie des übereinstimmenden Willens – des consensus – für sich genommen noch keine einheitliche Konzeption des Vertrags zu stiften. Denn klagbar wird dieser Wille erst, wenn ein weiteres Element hinzu tritt – bei Verbal- und Litteralkontrakten die Form und bei den Realkontrakten die res, d.h. die Sachübergabe. Lediglich bei den Konsensualkontrakten halten sich die römischen Juristen ausschließlich an den Willen. [<<73] Die Konsensualkontrakte standen jedoch nur in beschränkter Anzahl zur Verfügung. Der Satz pacta sunt servanda hat in Rom nicht gegolten. Er ist erst später, und zwar als Antithese zum römischen Enumerationsprinzip formuliert worden (6. Kapitel 4.2, S. 161).
Die Verbindlichkeit formloser Zusagen bedeutete einen großen Fortschritt. Der Rechtsverkehr mit Ausländern wurde erleichtert, was gewiss auch die Wirtschaft belebt hat. Neben den Konsensualverträgen gehörte die Stipulation zu jenen Geschäftstypen, die auch nach dem Ende der Antike in der Rechtspraxis noch große Bedeutung hatten. Die Stipulation bot die Möglichkeit, jede zulässige Leistung unter jeder zulässigen Bedingung zum Inhalt eines klagbaren Versprechens zu machen. An sich klaglose pacta konnten allein dadurch zu verbindlichen Verträgen gemacht werden, dass sie den Formerfordernissen der Stipulation genügten. Unter dem Einfluss des ius gentium und der damit einhergehenden Abschwächung der Formstrenge erfährt die Stipulation (1. Kapitel 2.1.2, S. 37) nun eine zusätzliche Ausdehnung ihres Anwendungsbereichs. An die Stelle der stets römischen Bürgern vorbehaltenen Verben spondes? spondeo! tritt im Verkehr mit oder unter Peregrinen fidepromittis? fidepromitto! Darüber hinaus werden schon bald auch noch andere Verben zugelassen. Die Bindungsgrundlage für die Erweiterung des Spektrums möglicher Verben bildet die fides (Treue, Vertrauen). Nach römischer Anschauung ist damit die Pflicht zum Worthalten bezeichnet, welche für alle Menschen ohne Unterschied des Bürgerrechts gilt. Die fides ist die eigentliche Grundlage des ius gentium. Auch der Schutz formloser Abreden im Rahmen von Konsensualverträgen lässt sich auf sie zurückführen. Die auf die fides aufbauenden Rechtsbildungen haben einen wichtigen Beitrag zur Modernisierung des römischen Privatrechts geleistet. Die allmähliche Entnationalisierung ist eine der Ursachen für die überzeitliche Geltung und Alterungsbeständigkeit des römischen Privatrechts. Auch im gegenwärtigen Recht eröffnet sich, etwa über den Gesichtspunkt des treuwidrigen Verhaltens (§ 242 BGB) oder der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB), die Möglichkeit, vorhandene Normen an veränderte Verhältnisse anzupassen.
Es ist bereits ausgeführt worden, dass in der jüngeren Republik die kausale neben die abstrakte stipulatio getreten ist (S. 38). Schon bald war es üblich geworden, die materiale Zweckbestimmung ausdrücklich [<<74] in das Versprechen aufzunehmen. So konnte man den besonderen Gefahren entgehen, die mit einer abstrakten Stipulation verbunden waren. Hatte sich der Schuldner dagegen abstrakt verpflichtet, so war es ihm im Prinzip nicht möglich, durch bestimmte Behauptungen den Lauf