Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der römischen Rechtskultur
Im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. weichen die bäuerlichen zunehmend urbanen Lebensformen, deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Struktur von Handel, Gewerbe und Geldwirtschaft bestimmt wird. In dieser Zeit unterwerfen die Römer ganz Italien, dann immer mehr Länder um das Mittelmeer. Am Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. haben sie schließlich ein Weltreich errichtet, das von Kleinasien bis nach Spanien, Frankreich und Deutschland reicht. Das schwerfällige, strenge, strukturell mündliche, auf die Bedürfnisse des Ackerbürgers zugeschnittene Recht der Zwölf Tafeln tritt zunehmend in Konflikt mit den veränderten Lebensbedingungen. Trotz aller Unzulänglichkeiten wollen die Römer das alte Gesetz aber weiterhin als Quelle des gesamten Rechts anerkennen. Man pflegt das hartnäckige Festhalten am Gesetzeswortlaut mit ihrer konservativen, in allen rechtlichen Dingen höchst vorsichtigen Haltung zu erklären. Dabei wird leicht übersehen, dass sich in Rom etwas ganz Neues zu entwickeln beginnt, nämlich eine Rechtskultur, die zunehmend durch Denkformen der Schriftlichkeit bestimmt wird. Das hartnäckige Festhalten der Römer am Gesetzeswortlaut ist Ausdruck ihres Strebens, die Zwölf Tafeln in den Rang eines kanonischen Textes zu erheben. Dies sei kurz erläutert.
Von der Bildung eines Textkanons spricht man, wenn eine Gesellschaft Wortlaut und Umfang bestimmter Texte als unveränderbar festlegt. Hinzu kommen muss das Bedürfnis, den Buchstaben lebendig zu erhalten und die wachsende Distanz zwischen ihm und der sich wandelnden Lebenswirklichkeit durch Auslegung (interpretatio) zu überbrücken. Die Kanonisierung der Zwölf Tafeln ist das typische Kennzeichen einer Kultur, in der das geschriebene Wort Einfluss auf die Rechtsordnung gewinnt (6. Kapitel 3, S. 153.). Die Zwölf Tafeln sind bald nachdem [<<55] sie beschlossen waren, zum Gegenstand fachkundiger Auslegung (interpretatio) geworden. Dies betont auch der römische Jurist Pomponius (S. 87), der das Verhältnis von Text und Interpretation erörtert. Er meint, das neue, durch Auslegung gewonnene Recht habe neben den Zwölf Tafeln keine selbständige Bedeutung: Auslegung dürfe nicht als besondere Kategorie (propria pars) betrachtet, sondern müsse mit dem allgemeinen Namen „Zivilrecht“ (ius civile) umschrieben werden (D. 1.2.2.5). Gaius erachtet es sogar für zulässig, eine in den Zwölf Tafeln nicht enthaltene Regelung als „gesetzliche“ zu bezeichnen, „weil sie durch die Auslegungstätigkeit der Juristen ebenso in Aufnahme gekommen ist, als wenn sie durch den Buchstaben des Gesetzes eingeführt wäre“ (I, 165). Doch sehen die Römer auch den Unterschied, der zwischen Text und Interpretation besteht. So sind für Pomponius Gesetz und ius civile inkongruente Größen. Der Begriff des ius civile weist über den in den Zwölf Tafeln enthaltenen Rechtsstoff weit hinaus. Das durch Interpretation erzeugte Recht wächst schnell, es ist viel umfangreicher und bald auch zunehmend verschieden von dem Text, an den es sich zunächst anhängt, den es aber mehr und mehr verdrängt, um sich schließlich seines Platzes zu bemächtigen.
Durch die bloße Verschriftlichung mündlich überlieferten Rechts entsteht also nicht schon Zivilrecht. Das Zwölftafelgesetz ist weder Bruch noch Nullpunkt oder Geburt, sondern Zwischenstation auf dem langen Weg der Entwicklung des römischen Rechts. In der Geschichte des Rechts gibt es keine tabula rasa. Wir schreiben immer auf eine Tafel, auf die schon vieles geschrieben, gelöscht und wieder neu geschrieben wurde – auch wenn die Tafel in der mündlichen Überlieferung besteht. Pomponius hat die Tatsache, dass der Gesetzestext zum Gegenstand fachkundiger Auslegung geworden ist, in ihrer Bedeutung zutreffend gewürdigt. Die Bildung eines Textkanons wäre demnach das strukturelle Merkmal von Zivilrecht und die um das Zwölftafelgesetz sich rankende Interpretation typische Erscheinung einer Rechtskultur, die zunehmend durch Denkformen der Schriftlichkeit geprägt wird. [<<56]
Träger der interpretatio sind zunächst die Pontifices. Durch die Anwendung der vorhandenen Gesetze und die Aus- und Fortbildung von Spruchformeln und Geschäftsritualen haben sie die Anfänge eines Juristenrechts geschaffen, das Denkstil und Technik der sich anschließenden profanen Jurisprudenz entscheidend prägen wird. Das Ziel einer möglichst gesetzestreuen Anwendung der Zwölf Tafeln erreichen die Pontifices jedoch häufig nur über Konstruktionen, die uns heute als sehr künstlich erscheinen. Ein Beispiel für die Ambivalenz von Wortkult und Auslegungsabsicht bildet die Emanzipation von Kindern aus der Gewalt des Vaters.
Dass die Macht des pater familias über die in seiner Gewalt stehenden Abkömmlinge bis zu seinem Tod oder dem der Kinder währte, ist bereits ausgeführt worden (S. 42). Nach den Zwölf Tafeln bestand keine Möglichkeit zur freiwilligen Beendigung dieses Verhältnisses. Es gab lediglich eine Bestimmung, die darauf zielte, dem Missbrauch der Gewalt des Vaters entgegenzuwirken (vgl. Tafel IV, 2):
Wenn ein Vater seinen Sohn dreimal zum Verkauf gegeben hat, soll der Sohn von der väterlichen Gewalt frei sein (si pater filium ter venum duit, filius a patre liber esto).
Ein solcher mehrfacher Verkauf war möglich, weil der Sohn in die Gewalt des Vaters zurückfiel, wenn der Käufer ihn freiließ. Um nun eine freiwillige Beendigung des väterlichen Gewaltverhältnisses zu erreichen, wurde die eigentlich eindeutige Regelung der Zwölf Tafeln so ausgelegt, dass sie einem ursprünglich gar nicht vorgesehenen Zweck dienen konnte: Der Vater verkaufte dreimal zum Schein seinen Sohn – etwa an einen Freund –, nach jedem Verkauf ließ der Freund den Sohn wieder frei, so dass dieser nach dem dritten Verkauf aus der väterlichen Gewalt entlassen (sui iuris) und somit vermögensfähig war. Man vermutet, dass diese Art von Freilassung ursprünglich deshalb vorgenommen wurde, [<<57] um eine Zersplitterung des bäuerlichen Besitztums durch Erbteilung zu verhindern. In modifizierter Form diente die emancipatio später auch der Entlassung von Töchtern, Enkeln oder Frauen aus dem väterlichen oder ehelichen Gewaltverhältnis. Zur Bezeichnung der Freisetzung aus einem Zustand der Abhängigkeit hat sich der Begriff der Emanzipation bis heute erhalten.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie durch eine Nachformung vorhandener Regeln dem Recht neue Gestaltungsmöglichkeiten erschlossen werden, bildet die in iure cessio. Die in iure cessio, eine Art Scheinrechtsstreit vor dem Magistrat, zeigt zugleich, dass gerade mit den Mitteln des juristischen Formalismus das ius civile an neue soziale und wirtschaftliche Erfordernisse angepasst wurde.
In alter Zeit bedeutete ius der eingehegte Platz auf dem Forum, auf welchem der Magistrat seine Gerichtsgewalt ausübte. In iure heißt „auf der Gerichtsstätte“ und in iure cessio „Abtretung vor Gericht“. Noch heute sprechen wir von Zession, wenn Rechte abgetreten werden, obwohl die modernen Vorschriften der §§ 398 ff. BGB mit dem umständlichen Ritual der in iure cessio kaum etwas gemein haben. Genau genommen ist die in iure cessio nicht nur ein Geschäft zur Abtretung, sondern auch zur Übertragung oder Aufhebung bestimmter Rechte. Der Akt beginnt wie ein um die Herausgabe eines Gegenstandes geführter Rechtsstreit (vindicatio): Soll ein Gegenstand übereignet werden, erscheinen Veräußerer und Erwerber mit dem Gegenstand vor dem Gerichtsherrn, der Erwerber spricht die Vindikationsformel des Klägers: Ich behaupte, dass dieser Sklave [als Beispiel] nach quiritischem Rechte mein sei (hunc ego hominem ex iure Quiritium meum esse aio). Im Prozess müsste der Gegner hierauf mit einer gleichartigen contravindicatio antworten, in der er seinerseits Eigentümer zu sein behauptet. Bei der in iure cessio unterlässt der Veräußerer jedoch diese Gegenbehauptung, er verhält sich also wie ein Beklagter, der die Klagebehauptung des Gegners anerkennt. Er schweigt oder gibt das Eigentum des [<<58] Erwerbers (formlos) zu. Daraufhin bestätigt der Gerichtsherr die Eigentumsbehauptung des Erwerbers.
Das Ritual der in iure cessio enthält weitgehende Übereinstimmungen mit dem der mancipatio. Ihr Vorteil gegenüber