Das ius gentium gilt als Keimzelle eines transnationalen Völkergemeinrechts und als Vorläufer autonomer Rechtssysteme jenseits des Nationalstaats, die gegenwärtig unter Stichworten wie lex mercatoria, lex sportiva oder lex informatica diskutiert werden (dazu näher Meder, Ius non scriptum, 2. Auflage, 2009, 25, 112). Seinen weltgeschichtlichen Rang verdankt das ius gentium vor allem seiner Neutralität gegen kulturelle Besonderheiten: Es ist nicht religionsgebunden, sondern säkular und erkennt die Betroffenen grundsätzlich als gleichberechtigt an. Ob Ägypter oder Grieche, Römer oder Jude, arm oder reich – das ius gentium behandelt alle gleich. Bemerkenswert ist ferner, dass hinter dem ius gentium keine internationale, sondern eine „nationale“ Organisation steht: Als Weltrecht, das weder durch einen „Staat“ noch durch eine Weltbehörde verabschiedet wurde, hat es den paradoxen Charakter eines „nationalen Weltrechts“.
Dem ius gentium steht der Begriff des Naturrechts (ius naturale) nahe: Dabei handelt es sich um ein überzeitliches Recht, das für alle Menschen ohne Unterschied des Bürgerrechts verbindlich sein soll und das auf der natürlichen Vernunft (naturalis ratio) beruht (12. Kapitel, S. 261). Gaius hat das ius gentium mit den Worten umschrieben:
Alle Völker, welche durch Gesetz und Gewohnheit regiert werden, bedienen sich teils ihres eigentümlichen, teils des allen Menschen gemeinsamen Rechtes. Dasjenige Recht nämlich, welches sich jedes Volk selbst setzt, ist [<<67] sein eigentümliches und wird bürgerliches Recht genannt, gleichsam das eigentümliche Recht dieses Staates; was dagegen das natürliche Rechtsbewußtsein unter allen Menschen festsetzt, das wird bei allen Völkern gleichmäßig beachtet und Weltrecht genannt, welchen Rechts sich gleichsam alle Nationen bedienen. Daher bedient sich das römische Volk teils seines eigentümlichen, teils des allen Menschen gemeinsamen Rechts (I, 1).
Es gab aber auch Fälle, in denen ius naturale und ius gentium in Konflikt gerieten. Das Beispiel ist die Sklaverei. Die Sklaverei war unter allen antiken Völkern anerkannt. Sie war damit eine Einrichtung, die dem ius gentium angehörte. Zugleich war aber unbestritten, dass nach dem natürlichen Recht auch die Sklaven frei sein müssen. Daher hat die Antike ius naturale und ius gentium nicht gleichgesetzt. Die Differenz zeigt an, dass das klassische Recht den Begriff persona (S. 90, S. 109) grundsätzlich auch auf Unfreie erstreckt und so verhindert, dass das Institut der Sklaverei mit der Idee einer natürlichen Freiheit in Widerspruch gerät. Dass der Mensch selbst in der Sklaverei einen unentziehbaren Rest von Würde behält, hat das klassische Recht erstens durch die Einordnung der Sklaverei als widernatürliches Institut (D. 1.5.4.1), zweitens durch die Feststellung, dass der Mensch niemals eine „Ware“ ist (D. 50.16.207) und drittens durch das Recht des Sklaven, sich selbst zu verletzen oder zu töten (D. 15.1.9.7) zum Ausdruck gebracht (Behrends).
5. Römische Juristen der Frühklassik
Das ius honorarium hat das alte ius civile zwar nicht völlig verdrängt, aber doch zunehmend eingeschränkt. Mit dem flexibleren, durch den praetor urbanus geschaffenen Recht konnten die Lücken des in den Gesetzen niedergelegten, formstrengen Rechts gefüllt werden. Auf Grundlage des vornehmlich durch den praetor peregrinus geschaffenen Rechts ließen sich Regeln herauspräparieren, von denen man annahm, dass sie zum Bestand des Rechts aller zivilisierten Völker gehören. Nun waren aber sowohl der praetor urbanus als auch der praetor peregrinus Politiker. Sie waren juristische Laien, die in erster Linie für die förmliche Einleitung der Prozesse zu sorgen hatten. Auch die Richter und die Advokaten, [<<68] welche die Parteien im Prozess vertraten, hatten keine juristische Ausbildung genossen. Als das System der Prozessformeln und der ergänzenden Rechtsmittel in der späteren Republik komplizierter wurde, entstand ein Bedarf an Experten mit speziellen juristischen Kenntnissen (iuris consulti). Vom 3. Jahrhundert an kennen wir die ersten Fachjuristen mit Namen. Darüber hinaus wissen wir wenig über sie. Fest steht aber, dass sich schon bald eine Kultur der Auslegung und Kommentierung entwickelt hat, die über das alte ius civile hinaus noch auf andere Rechtstexte – etwa die prätorischen Edikte – Bezug nimmt. Die Erweiterung des Spektrums relevanter Texte ist von einem Prozess der sozialen Differenzierung begleitet, in dessen Folge sich eine neue Klasse intellektueller Eliten herausbildet. Zudem ist von Bedeutung, dass das Auftreten der ersten Fachjuristen Roms in die Zeit der Begegnung mit der griechischen Philosophie fällt.
5.1 Der Einfluss des Hellenismus
Die Auseinandersetzung mit dem Hellenismus hatte für den Aufstieg des römischen Rechts entscheidende Bedeutung. Der Hellenismus war damals eine hauptsächlich aus griechischen und orientalischen Elementen zusammengewachsene Spätkultur, die sich auf dem Boden des ehemaligen Reiches Alexanders des Großen (356 – 323 v. Chr.) im östlichen Mittelmeerraum zu einer wirtschaftlichen Macht entwickelt hat. Die Begegnung mit der griechischen Philosophie gab den römischen Juristen den ersten Anstoß für eine wissenschaftliche Behandlung des Rechts, die mit den Denkmitteln von Analyse und Synthese das innere System der Rechtsbegriffe zu erforschen sucht. Den Römern gebührt also das Verdienst, das von einer anderen Kultur außerhalb des Rechts erfundene methodologische Instrumentarium zur Lösung juristischer Problemstellungen fruchtbar gemacht zu haben. Auch konkrete Einrichtungen des griechischen Rechts hatten auf das römische Recht Einfluss. Dazu gehörten vor allem Rechtsinstitute, in denen die Schriftform eine besondere Rolle spielt. Die Schriftlichkeit hatte im griechischen Recht einen viel höheren Stellenwert als bei den Römern. So übernahm das römische Recht etwa die Beurkundung bestimmter privater Rechtsgeschäfte. [<<69] Griechische Einflüsse zeigt auch die rechtliche Erfassung des Bankwesens. Insbesondere im Bereich des sich bald ausbreitenden bargeldlosen Zahlungsverkehrs wurden Schriftformerfordernisse zum unentbehrlichen Element rechtlicher Gestaltung. Insgesamt ist aber die aus der Philosophie stammende Methode begrifflichen Denkens der maßgebliche Faktor griechischen Einflusses. Sie erst ermöglicht es den römischen Juristen, Rechtsbegriffe und Rechtsprinzipien zu entwickeln, deren Überlegenheit darin besteht, dass sie sich den rasch wandelnden und in verschiedenen Kulturkreisen unterschiedlich ausgeprägten Bedürfnissen der Praxis anpassen lassen.
5.2 Soziale Stellung und Tätigkeitsfelder
Die römischen Juristen waren wohlhabende Männer und von großem Ansehen. Sie stammten überwiegend aus vornehmen Plebejerfamilien und gaben ihre Kenntnisse an Jüngere weiter, so wie man in Rom immer Leute um sich versammelt hat, wenn man Macht und Ansehen gewinnen wollte. Sie erteilten unentgeltlich Privatpersonen, Magistraten und Richtern Gutachten (responsa). Erst später, in der Kaiserzeit, streben sie danach, mit ihrem Fachwissen auch die wirtschaftliche Existenz zu sichern. Ihre Arbeitsweise ist stark auf die Bedürfnisse der Praxis ausgerichtet. Durch ihre Gutachtertätigkeit erlangen sie wesentlichen Einfluss auf die Rechtsfortbildung der Prätoren und die Entscheidungen der Richter. Die Vertretung vor Gericht überlassen sie meist Rhetoren, von denen sie sich abzugrenzen wissen. Zur Tätigkeit der römischen Juristen gehört auch das cavere (daher Kautelarjurisprudenz), also die Gestaltung von komplizierten Verträgen, Prozessformularen oder Testamenten. Die ältesten Literaturformen sind der Gesetzeskommentar zu den Zwölf Tafeln, die juristische Monographie und das ordnende Lehrbuch. Die Sammlungen von Gutachten renommierter Juristen (Responsensammlungen) werden erst später, vornehmlich von Schülern, herausgegeben. Auch der Kommentar von Juristenschriften ist jüngeren Datums (S. 83). Die römischen Juristen haben sich mit Angelegenheiten aus den verschiedensten Rechtsbereichen befasst. Erhalten sind aber hauptsächlich Zeugnisse ihrer Tätigkeit im Privatrecht. [<<70]
5.3 Die Rechtsschulen der Sabinianer und Prokulianer
Am Anfang der frühklassischen Zeit steht einer der größten römischen Rechtsgelehrten: M. Antistius Labeo (1. Jahrhundert v./n. Chr.). Er war Sohn des Juristen P. Antistius Labeo, der an der Verschwörung gegen Caesar teilgenommen