• Gegenseitige Bürgerrechte
Vor dem Hintergrund, dass 3,2 Millionen Unionsbürger im Vereinigten Königreich ansässig sind, und dass 1,2 Millionen britische Staatsangehörige in der EU leben, ist die Frage des gegenseitigen Schutzes der Bürgerrechte eine absolute Priorität. Nach dem Austrittsabkommen genießen Unionsbürger und britische Bürger, die ihr Recht auf Aufenthalt im jeweiligen Hoheitsgebiet vor dem Ende der Übergangszeit (31.12.2020 plus eventuell maximal 2 Jahre Verlängerung) ausgeübt haben und danach weiter dort wohnen, auf Lebenszeit alle Rechte, die ihnen auch vor dem Austritt zugestanden haben; dies schließt ihre Familienangehörigen mit ein. Sie können auch nach dem Ende der Übergangszeit weiter ihren Lebensschwerpunkt dort bewahren, arbeiten oder studieren. Ihre Ehepartner, Kinder oder Enkelkinder,[S. 65] die in einem anderen Staat leben, können jederzeit in das Hoheitsgebiet des Familienangehörigen übersiedeln. Die Berechtigten bewahren auch sämtliche Ansprüche auf Gesundheitsleistungen und sonstige Leistungen der sozialen Sicherheit. Die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen wird gewährleistet. Jedwede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist auch weiterhin verboten, und dies über den Übergangszeitraum hinaus. Sie genießen vollständige Gleichbehandlung, insbesondere im Hinblick auf gleiche Rechte und Chancen beim Zugang zur Beschäftigung und Ausbildung.
Allerdings gelten diese Rechte nicht mehr automatisch. Vielmehr müssen etwa Unionsbürger bis zum Juni 2021 ihren Status als Aufenthaltsberechtigter im Vereinigten Königreich geltend machen. Bei Versäumung der Frist kann dieser Status nur bei Vorliegen guter Gründe für die verspätete Antragsstellung erlangt werden.
• Institutionelle Bestimmungen
Ein Gemeinsamer Ausschuss, der sich zu gleichen Teilen aus Vertretern des Vereinigten Königreichs und der EU zusammensetzt, hat die Aufgabe, die Umsetzung und Anwendung des Austrittsabkommens zu überwachen und zu erleichtern. Er kann Beschlüsse fassen und beiden Parteien geeignete Empfehlungen unterbreiten (Art. 164ff. VK-EU-Abkommen). Der Gemeinsame Ausschuss ist auch zuständig für die Entscheidung über eine eventuelle Verlängerung des Übergangszeitraums um ein oder zwei Jahre. Der Ausschuss ist darüber hinaus insbesondere auch für die Regelung von Streitfällen zuständig. Falls es dem Ausschuss nicht gelingt, eine für beide Seiten akzeptable Lösung zu finden, kann jede der beiden Parteien ein spezifisches Schiedspanel bestehend aus 5 Richtern anrufen, an dessen Entscheidung die Parteien gebunden sind und deren Nichtbeachtung mit Sanktionen oder sogar der Aussetzung des Abkommens (allerdings mit Fortgeltung der gegenseitigen Bürgerrechte) geahndet werden kann. Falls der Streitfall Fragen zur Auslegung des Unionsrechts aufwirft, müssen diese dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt werden.
• Spezielle Regelungen für die Übergangszeit
Die Parteien haben im Austrittsabkommen eine Reihe von Übergangsbestimmungen niedergelegt, die nur für den Zeitraum vom 1. Februar 2020 bis zum 31. Dezember 2020 (oder im Falle einer Verlängerung der Übergangszeit bis zu deren Ende) gelten:
• das Vereinigte Königreich verbleibt provisorisch im Binnenmarkt und der Zollunion der EU. Waren, die vor dem Ende der Übergangszeit im Vereinigten Königreich in den freien Verkehr gebracht worden sind, unterliegen auch nach dem Ende der Übergangszeit den Regeln des freien Warenverkehrs. Urheberrechte, die vor Ablauf der Übergangszeit gewährt wurden, gelten fort (Art. 50 VK-EU-Abkommen).
• Das Vereinigte Königreich unterliegt nach wie vor den Verpflichtungen aus den von der EU mit Drittländern abgeschlossenen Handelsabkommen. Es kann eigene[S. 66] Handelsabkommen verhandeln, unterzeichnen und ratifizieren, kann diese Abkommen aber erst nach Ablauf der Übergangszeit in Kraft setzen.
• Verwaltungsverfahren, insbesondere in den Bereichen Wettbewerb und staatliche Beihilfen, die vor dem Ende der Übergangszeit eingeleitet worden sind, werden bis zur Endentscheidung und Vollstreckung fortgesetzt (Art. 92 VK-EU-Abkommen).
• Die Sitzabkommen für die Europäische Bankenaufsicht, die Europäische Arzneimittel-Agentur und die Galileo-Sicherheitsüberwachungszentrale müssen bis zum Abschluss des Umzugs beendet werden (Art. 119 VK-EU-Abkommen).
• Der EuGH bleibt für alle vor dem Ende der Übergangszeit eingeleiteten Verfahren (Vorabentscheidungen, Vertragsverletzungen, Direktklagen etc.) von oder gegen das Vereinigte Königreich noch 4 Jahre nach dem Ende der Übergangszeit bis zur endgültigen Entscheidung zuständig (Art. 86f. VK-EU-Abkommen).
• In die auswärtigen Angelegenheiten wird das Vereinigte Königreich während der Übergangszeit nur insoweit einbezogen, als es selbst betroffen ist, wie z.B. im Falle eines gemischten Abkommens oder im Einzelfall auf Einladung (Art. 129 VK-EU-Abkommen).
• Finanzbestimmungen
Das Vereinigte Königreich muss alle unter dem mehrjährigen Finanzrahmen der EU 2014–2020 eingegangenen finanziellen Verpflichtungen vollumfänglich erfüllen, einschließlich solcher, die über die Übergangsperiode hinausgehen (Art. 135ff. VK-EU-Abkommen). Auf eine einfache Formel gebracht bedeutet dies: die von der EU- 28 eingegangenen finanziellen Verpflichtungen sind von der EU-28 zu erfüllen. Das Vereinigte Königreich zahlt folglich seinen Anteil am Europäischen Entwicklungsfonds oder der Fazilität für die Flüchtlinge in der Türkei. Es erfüllt seine Verpflichtungen gegenüber der Europäischen Investitionsbank bis 2030, während die Europäische Zentralbank dem Vereinigten Königreich seine Einlagen zurückbezahlt. Bis 2064 muss das Vereinigte Königreich auch seinen Anteil in die Pensionskasse der EU einzahlen. Obwohl noch keine endgültigen Zahlen vorliegen, wird der Gesamtaufwand des Vereinigten Königreichs allgemein auf 40 Milliarden Euro geschätzt.
b) Politische Erklärung
Dem Austrittsabkommen wurde eine Politische Erklärung vom 17. Oktober 2019 beigefügt48, die die groben Linien für die Verhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich über die zukünftigen Beziehungen vorzeichnet49. Diese Erklärung bedarf nicht der Ratifizierung und ist rechtlich nicht bindend. Sie enthält die gemeinsame Absicht, die formalen Verhandlungen über ein Abkommen über die zukünftigen Beziehungen sobald wie möglich nach dem Austritt des Vereinigten[S. 67] Königreichs aus der EU zu beginnen, so dass sein Inkrafttreten zum 31. Dezember 2020 erfolgen kann.
Die Politische Erklärung bekräftigt den Willen beider Parteien zu einer ehrgeizigen, breiten, tiefen und flexiblen Partnerschaft, deren Kern eine Freihandelszone ist. Als Grundprinzip soll dabei gelten, dass jedes einzelne Verhandlungsergebnis auf der einen Seite die vier Grundfreiheiten der EU, d.h. den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen, und auf der anderen Seite die Souveränität des Vereinigten Königreichs respektieren soll.
Die Parteien streben ein ambitioniertes Freihandelsabkommen an mit „Null-Zollsätzen, Null-Quoten und Null-Dumping“. Es ist ein besonderes Anliegen der EU, dass die künftigen Handelsbeziehungen auf „gleichwertige Wettbewerbsbedingungen (level playing field)“ gegründet werden, wozu vor allem gemeinsame Standards in den Bereichen staatliche Beihilfen, soziale Sicherheit, Umwelt und Steuern vereinbart werden müssen.
Die Politische Erklärung enthält darüber hinaus Hinweise für die Verhandlungen betreffend die Finanzleistungen, die Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung und nicht zuletzt die Fischereirechte in den britischen Gewässern. Eine enge Zusammenarbeit soll auch in den globalen Aufgaben wie z.B. dem Klimaschutz, dem Umweltschutz oder der Entwicklungshilfe vereinbart werden.
c) Finale Regelung der zukünftigen Beziehungen
[53] Den ersten Schritt zur Eröffnung der Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich hat die Kommission