Fragen zu B. Gerichtsverfassung:
1 Was bedeutet die sog. Inkompatibilität des verfassungsrichterlichen Amts, und wo ist sie geregelt?
2 Wie ist die Zuständigkeit der Senate prinzipiell aufgeteilt?
3 Wie sind die Senate besetzt, und wer führt den Vorsitz?
4 Wann ist ein Senat beschlussfähig?
5 Was sind die Aufgaben des Plenums?
6 Mit welchen Mehrheiten werden die Richter des BVerfG gewählt, und was ist Zweck der diesbezüglichen Regelungen?
Die Lösungen finden Sie auf S. 194.
Literaturhinweis: Hong, Mathias, Ein Gericht oder zwei Gerichte?, Der Staat 54 (2015), 409.
|17|C. Allgemeine Verfahrensregeln
I. Lückenhaftigkeit des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
57Das BVerfGG stellt keine in jeder Hinsicht umfassende, eigenständige Prozessordnung dar, ist vielmehr durchaus lückenhaft angelegt. Diese Lücken lassen sich zum Teil durch Rückgriff auf die GOBVerfG schließen, z.T. verweist das BVerfGG auch ausdrücklich auf gesetzliche Regelungen für andere Gerichte, ordnet namentlich in § 17 die entsprechende Anwendbarkeit von Vorschriften des GVG an. Soweit danach Lücken verbleiben, sollten diese – der Gerichts- und Rechtsprechungsqualität des BVerfG und seiner Tätigkeit entsprechend – grundsätzlich durch analoge Anwendung allgemeiner verfahrensrechtlicher Grundsätze im Wege einer Gesamtanalogie geschlossen werden.
58Unbeschadet der zwischenzeitlich vom Gesetzgeber anerkannten Geschäftsordnungsautonomie des Verfassungsorgans BVerfG kann die Lückenhaftigkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Regelung nicht allgemein im Sinne einer Verfahrensautonomie dahin verstanden werden, dass das Verfahrensrecht im Einzelnen dem BVerfG zur freien Ausgestaltung nach seinen eigenen Vorstellungen überlassen werden sollte. Allerdings muss jede entsprechende Anwendung allgemeinen Prozessrechts auf das BVerfG seiner besonderen Stellung und seinen besonderen Aufgaben Rechnung tragen.
Beispiel: Ob wie in anderen Gerichtsbarkeiten ein Prozessvergleich geschlossen werden kann, wie ihn das BVerfG in den LER-Verfahren (zum Religionsunterricht in Brandenburg) vorgeschlagen hat (BVerfGE 104, 305, sodann BVerfGE 106, 210), kann deswegen unterschiedlich beurteilt werden, s. dafür Schmidt, NVwZ 2002, 925ff., dagegen Wolff, EuGRZ 2003, 463; differenzierend Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Aufl. 2015, Rn. 67f.
II. Ausschluss und Ablehnung von Richtern
59Eine bedeutsame Rolle im verfassungsgerichtlichen Verfahren spielen die beteiligten Richter des BVerfG, deren grundsätzliche Rechtsstellung bereits dargestellt wurde (→ Rn. 3, 56). Im Hinblick auf die Beziehung des Richters zu einem einzelnen Verfahren können sich Probleme ergeben, denen die §§ 18, 19 BVerfGG Rechnung zu tragen suchen. Diese in ähnlicher Form aus allen Prozessordnungen bekannten Bestimmungen sollen sicherstellen, dass auch beim BVerfG die Richter die für ihre Entscheidungen im Einzelfall notwendige Neutralität mitbringen. Eine Verletzung der §§ 18, 19 BVerfGG würde zugleich einen Verstoß gegen das Gebot des |18|gesetzlichen und verfassungsmäßigen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bedeuten.
1. Ausschluss eines Richters
60§ 18 Abs. 1 BVerfGG schließt den Richter des BVerfG mit unmittelbarer Wirkung von der Ausübung seines Richteramts in einer bestimmten Sache aus. Dies hat zur Konsequenz, dass der ausgeschlossene Richter sich jeder weiteren Tätigkeit in der Sache zu enthalten hat. Entscheidungen, die der jeweils befasste Spruchkörper des BVerfG über den Ausschluss eines Richters ohne dessen Mitwirkung treffen kann, haben nur deklaratorische Bedeutung, sind aber im Interesse der Rechtsklarheit praktisch gleichwohl wichtig.
61Die Ausschlussgründe sind im Rahmen des § 18 BVerfGG so ausgestaltet, dass zunächst in Abs. 1 die beiden Grundtatbestände genannt und sodann in den Absätzen 2 und 3 restriktiv präzisiert werden. Die Rechtsprechungspraxis tendiert dazu, die Bestimmung so auszulegen, dass es nur selten zum Ausschluss von Richtern kommt. Dies ist nicht allein mit dem Ziel der Vermeidung von Beschlussunfähigkeit zu erklären, sondern auch dadurch, dass sich durch den Ausschluss eines Richters die Mehrheitsverhältnisse verschieben können.
62Nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG ist ein Richter ausgeschlossen, wenn er an der Sache in eigener Person beteiligt ist oder aber mit einem Beteiligten durch Heirat, Verwandtschaft oder Schwägerschaft in einer besonders engen Beziehung steht. Zur Bedeutung der ausschlussbegründenden Beteiligung legt § 18 Abs. 2 BVerfGG fest, dass eine Beteiligung nicht schon dann vorliegt, wenn der Richter oder seine Beziehungsperson aufgrund des Familienstandes, des Berufs, der Abstammung, der parteipolitischen Zugehörigkeit oder aus ähnlichen allgemeinen Gesichtspunkten am Ausgang des Verfahrens interessiert ist. Ein weitergehendes Verständnis von Beteiligung wäre gerade beim BVerfG problematisch, weil seine Entscheidungen häufig große Bevölkerungsgruppen betreffen, zu denen die Richter oder ihre Beziehungspersonen in sehr vielen Fällen gehören würden. § 18 Abs. 2 BVerfGG verlangt damit zugleich vom Richter des BVerfG, dass er sich von seinen persönlichen Interessen am Ausgang einer Sache, die sich nur aus einem allgemeinen Gesichtspunkt der angesprochenen Art ergeben, frei macht und seine Neutralität bewahrt.
Beispiel: Bei einer Entscheidung über die Vereinbarkeit einer mietrechtlichen Gesetzesbestimmung mit dem Grundgesetz begründet es keine Beteiligung, wenn die allgemeinen Konsequenzen der zu treffenden Entscheidung einen Richter (oder seine Angehörigen) als Mieter oder als Vermieter berühren.
63Der Ausschluss gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG setzt voraus, dass der Richter in derselben Sache bereits von Amts oder Berufs wegen tätig gewesen ist. Die Reichweite dieses Ausschlussgrundes ist dadurch begrenzt, dass die frühere Tätigkeit sich auf dieselbe Sache beziehen muss. Damit ist nur eine Tätigkeit in derselben konkreten Rechtsangelegenheit (in streng verfahrensbezogenem Sinne) gemeint, nicht etwa eine frühere Befassung mit demselben Rechtsproblem anlässlich anderer Streitigkeiten oder sonstiger Vorgänge, selbst wenn diese sachlich in engem Zusammenhang |19|mit der Verfassungsbeschwerde stehen (BVerfG [K], NVwZ 2004, 855 [856]).
Hinweis: BVerfGE 133, 163 Rn. 6ff. sieht in der Mitwirkung an der unanfechtbaren Festsetzung einer Missbrauchsgebühr nach § 34 Abs. 2 BVerfGG keine Vorbefassung, wenn der Betroffene dann gegen die Festsetzung offensichtlich unzulässige Klagen vor den Verwaltungsgerichten erhoben hat und gegen die ablehnenden Prozessentscheidungen der Verwaltungsgerichte anschließend Verfassungsbeschwerde erhoben wird.
Zusätzlich stellt § 18 Abs. 3 BVerfGG fest, dass die Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren (Nr. 1) (→ Rn. 65). sowie die Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung zu einer für das Verfahren möglicherweise bedeutsamen Rechtsfrage (Nr. 2) nicht als Tätigkeiten im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG gelten.
2. Ablehnung eines Richters
64§ 19 BVerfGG sieht die Möglichkeit vor, dass ein Richter des BVerfG aufgrund einer Entscheidung dieses Gerichts, an der er nicht mitwirkt, von der weiteren Mitwirkung im Verfahren ausgeschlossen wird. Diese Entscheidung des BVerfG kann in zwei Fällen ergehen: Zum einen kann ein Beteiligter den Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnen, was nur bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung beachtlich ist (§ 19 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 BVerfGG). Zum anderen kann sich ein nicht abgelehnter Richter selbst für befangen erklären (§ 19 Abs. 3 BVerfGG). In beiden Fällen muss der befasste Spruchkörper des BVerfG nicht etwa feststellen, ob der Richter tatsächlich befangen, d.h. nicht zu einer neutralen Entscheidung fähig ist; vielmehr geht es allein darum, ob aus der Sicht eines Beteiligten Anlass besteht, die Befangenheit des Richters zu befürchten.
65In Anwendung des § 19 BVerfGG legt das BVerfG ein enges Verständnis der Besorgnis der Befangenheit zu Grunde; es vermeidet dadurch insbesondere, dass