»Das Böse in den Menschen auslöschen?«, wiederholte Ciel. Als sie diese Worte aussprach, überfiel sie ein Schwindelanfall mit solcher Macht, dass sie sich an die Wand lehnen musste und gezwungen war, die Augen zu schließen.
Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Hör zu, du …«
»Nein, hör auf! Halt die Klappe!« Ihr wurde das alles zu viel. Sie wollte aufstehen und davonrennen, doch er legte ihr seine Hände auf die Schultern und drückte sie zurück auf den Boden, damit sie ihm weiter zuhörte.
»Deiner Zwillingsschwester ergeht es genauso wie dir! Auch sie hat keinerlei Erinnerungen mehr, weder an ihre Vergangenheit noch an ihr wahres Ich! Sie leidet genauso wie du! Meine Königin hat euch falsche Erinnerungen in eure Köpfe gepflanzt. Dich hat sie glauben lassen, du wärst in einem Waisenhaus aufgewachsen und könntest dich nicht an deine Eltern erinnern. Dabei bist nie in einem Waisenhaus gewesen. Auch deiner Schwester wurden Lügen in den Kopf gesetzt, damit ihr euch für Menschen haltet und dem menschlichen Leben anpasst. Dabei seht ihr immer aus wie siebzehnjährige Teenager. Ihr altert nicht. Sobald ihr auf der Erde seid, dauert es eine Weile, bis ihr den falschen Erinnerungen in euch Glauben schenkt und ihr zu eigenständigen Wesen werdet. Zuvor irrt ihr wie Zombies ziellos umher, ohne zu wissen, was oder wer ihr seid. Doch dann erreichen euch die falschen Erinnerungen, und bald darauf trefft ihr aufeinander. Damit nimmt das Unheil seinen Lauf.«
Ciel schlug seine Hände weg und sprang auf. »Du bist verrückt! Völlig wahnsinnig!«, schrie sie mit Tränen in den Augen.
»Ich weiß, dass das alles verrückt klingt und du mir das nicht glauben kannst, aber …«
Lucien wollte nach ihrer Hand greifen, doch sie wich ein paar Schritte zurück, fort von ihm, und warf ihm einen hasserfüllten Blick zu.
»Du bist ein Verrückter!«, spie sie ihm mit furchterfüllter Stimme entgegen. Sie spürte ein schreckliches Brennen in den Augen, und einen schmerzhaften Kloß in der Kehle, den sie nicht hinunterschlucken konnte.
Eine einzige Träne rann ihr über die Wange. Sie landete auf der Decke, die plötzlich Feuer fing.
Ciel machte erschrocken einen Satz zur Seite.
»Ciel, beruhige dich!«
Rauch stieg empor und Ciel musste husten. Toivo bellte aufgeregt, zog sich dann aber winselnd in die hinterste Ecke der Hütte zurück, als die Flammen immer mächtiger wurden.
Ciel bekam keine Luft mehr. Ihre Augen tränten und brannten. Panisch blickte sie sich um, hustete und würgte. Sie konnte durch den Rauch kaum noch etwas sehen.
»Toivo!«, schrie sie voller Angst, wollte ihn suchen, doch als die Flammen ungezügelt wie zischende Schlangen emporschossen und ihr den Weg versperrten, taumelte sie nach hinten. Durch den Rauch erkannte sie, wie Lucien den Welpen auf den Arm nahm. Er wirbelte herum und schaute sie an. Tränen glitzerten in seinen Augen. Er formte mit dem Mund Sätze, die sie nicht verstehen konnte.
»Wir müssen hier raus!« Sie wollte zu ihnen rennen, doch über ihr war ein dumpfes Ächzen zu hören. Im selben Moment stürzte ein brennender Holzbalken direkt vor ihre Füße. Funken sprühten, Flammen züngelten empor. Ciel schrie und ging zu Boden. Vom Rauch und dem aufgewirbelten Dreck musste sie röcheln und wieder husten. Benommen blickte sie sich um, konnte Lucien und Toivo aber nicht mehr sehen. Ihr Sichtfeld verschwamm. Panik brach in ihr aus. Sie musste so schnell wie möglich das Feuer löschen. Keuchend kam sie auf die Beine und humpelte zur Tür. Nachdem sie sie aufgerissen hatte, fiel sie stolpernd in den Sand, und klopfte hektisch die Flammen aus, die ihre Klamotten zu verbrennen drohten. Dann stand sie auf und sah sich panisch um. »Hilfe!«, krächzte sie, doch der Rauch kratzte ihr noch immer in der Luftröhre.
Niemand war zu sehen, der sie hätte hören oder ihr helfen können. Ihre Klamotten waren verdreckt, teilweise versengt und sie war an den Händen und im Gesicht verletzt. Doch sie verspürte vor lauter Panik keine Schmerzen, obwohl die Haut ihrer Hände und Arme dunkelrote Brandblasen aufwies. In ihrem Kopf schrie nur ein einziger Gedanke: Sie musste Toivo und Lucien retten. Koste es, was es wolle!
Es gab keinen Behälter, den sie mit Meerwasser hätte füllen können, also begann sie verzweifelt, Sand auf die Flammen zu werfen, in der absurden Hoffnung, irgendwie das Feuer zu ersticken. Doch es war sinnlos. Es hatte bereits die Oberhand gewonnen. Die heißen Flammen loderten viel zu heftig, schwarzer, dichter Rauch stieg empor und schwärzte den Himmel. Das Feuer brannte gnadenlos, fraß das kleine Häuschen auf. Als die Hütte dann wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrach, schrie Ciel auf.
»Nein!«
Toivo! Lucien! Sie wollte schon ins Feuer rennen, egal was das für sie bedeuten würde. Doch dann erstarrte sie und riss die Augen auf, als ihr klar wurde, dass sie tatsächlich diejenige war, die die Hütte in Brand gesteckt hatte. Sie hatte ihren Hund und Lucien getötet. Sie war eine Mörderin.
In der Ferne war Sirenengeheul zu hören.
Von Panik ergriffen, wirbelte Ciel herum und rannte davon. Wellen brausten gegen das Ufer. Möwen kreischten am Himmel. Vereinzelte Regentropfen fielen aus den grauen Wolken, dann begann es wie aus Eimern zu schütten, während sie den menschenleeren Strand entlangjagte.
Dieses Feuer. Hatte sie … war sie das wirklich gewesen? Ja, sie hatte das getan! Sie hatte die Hütte in Brand gesetzt, irgendwie, und dabei zwei Leben ausgelöscht, ohne zu wissen, dass sie so eine Macht überhaupt besaß. Aber es blieb ihre Schuld. Sie war eine Mörderin. Ein Monster. Lucien hatte recht, sie war irgendetwas Unheimliches und Gefährliches. Alles andere, bloß kein Mensch.
»Es tut mir leid, Toivo! Und Lucien«, keuchte Ciel, stürmte blindlings durch den Regen und eine steinerne Treppe zur Hauptstraße hoch.
Kaum ein Mensch war zu sehen. Die meisten kleinen Souvenirgeschäfte waren geschlossen.
Sie rannte weiter durch eine schmale Gasse, bis sie an einem verlassenen Feldweg ankam, der an einen dicht bewachsenen Wald grenzte. Nebel kam auf und erschwerte ihr zusätzlich die Sicht. In den großen Regenpfützen spiegelten sich die schwarzen Wolken, und das Plätschern der Tropfen schmerzte in ihren Ohren. Der Regen fiel unablässig, als würde nie wieder die Sonne scheinen, durchnässte ihre Klamotten, ihr Haar, ihren Körper, ihre Seele.
Sie schlitterte über den feuchten Boden, knickte um und landete im Matsch. Für ein paar Sekunden lag sie weinend im Dreck, das Gesicht auf den Boden gedrückt. Sie konnte nicht die nötige Kraft aufbringen, um aufzustehen. Sie hatte für gar nichts mehr Kraft. Was geschehen war, was sie getan hatte, konnte nie wieder ungeschehen gemacht werden. Toivo, ihr kleiner treuer Freund und Lucien …
Ihre Finger bohrten sich in den schlammigen Boden. Sie schrie und weinte, doch ihre Schreie wurden von lautem Donnergrollen übertönt. Sie riss den Kopf hoch, als sie hörte, wie in der Nähe ein Blitz in einen Baum einschlug.
Nach einer gefühlten Ewigkeit gelangte es ihr endlich, sich mühsam aufzurappeln und durch den Regen weiterzuhumpeln. Ihr Körper fühlte sich bleischwer an und war ein reines Trümmerfeld aus Dreck und Brandverletzungen. Doch sie spürte keinen Schmerz. Ihre körperlichen Verletzungen waren nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die ihre Seele litt.
Ihre Schritte verlangsamten sich, als sie kraftlos und erschöpft vom Feldweg aus in ein kleines Waldgebiet humpelte, das in einen menschenleeren Park überging. Unterwegs verlor sie einen Schuh. Der Regen hatte sie komplett durchnässt, und sie zitterte vor Kälte. Ihre versengten Klamotten boten ihr kaum Schutz gegen den eisigen Wind. Sie hustete stark und wünschte sich ein Taschentuch herbei. Schnell wischte sie sich mit dem Handrücken über die nassen Augen.
Was soll jetzt nur aus mir werden?, dachte sie verzweifelt. Sie war ganz allein, hatte niemanden mehr. Ihr Chef war tot, ermordet von jemandem, der womöglich nun auch hinter ihr her war. Ihr geliebter Toivo hatte in den Flammen, die sie verursacht hatte, den Tod gefunden. Und Lucien, der merkwürdige Junge, der ihr so viel Rätselhaftes erzählt hatte, war ebenfalls nicht mehr am Leben. Er hatte sie gewarnt, hatte ihr gesagt, dass sie und ihre Zwillingsschwester gefährliche Kräfte besaßen. Nun hatte sie den Beweis dafür.