"Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland. Wolfram Knauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfram Knauer
Издательство: Bookwire
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783159615172
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vieler der Tanzorchester hatte schon vor der Machtergreifung der Nazis die Faustregel gegolten: Die meisten der schnellen Tanznummern wurden aus dem US-amerikanischen Repertoire übernommen; Balladen, Schlager oder als »exotisch« geltende Nummern wie Tangos oder Rumbas etc. waren dagegen meist Eigenkompositionen.115 Als Hauptquelle dienten amerikanische Schallplatten. Der Pianist Georg Nettelmann etwa transkribierte, nachdem es ab 1933 immer schwerer wurde, amerikanisches Notenmaterial zu erhalten, einfach die Arrangements von Titeln, die ihm und seinen Musikern besonders am Herz lagen.116

      Im Goodman-Hit »Swingtime in the Rockies« vom Oktober 1936 gelingt Stauffers Band der Drive schon überzeugender, und neben Dobschinski hatte Stauffer mit dem Trompeter Kurt Hohenberger, dem Klarinettisten Ernst Höllerhagen und den Saxophonisten Benny de Weille und Eugen Henkel bald weitere Solisten, die nicht nur die Arrangements zusammenhielten, sondern auch solistisch etwas zu sagen hatten. Vom September 1938 etwa stammt der »St. Louis Blues«, der als eine von Dobschinski intonierte Elegie beginnt, auf die eine gerade in ihrer Simplizität großartige Klarinettenpartie Höllerhagens folgt. Das Arrangement wechselt ins fast doppelt so schnelle Tempo, man hört ein sicheres Saxophonsolo Benny de Weilles, komplexe, dabei überzeugend dargebotene Satzarbeit aller, ein mit Versatzstücken des Boogie Woogie arbeitendes Klaviersolo und dann, als Höhepunkt, ein mitreißendes Geigen-, nein, man muss fast sagen Fiddle-Solo des im Saxophonsatz sitzenden, aus Budapest stammenden Bertalan Bujka, das in ein antreibendes Duo zwischen Bujka und dem Akkordeonisten Buddy Bertinat mündet. Der Vergleich allein dieser drei Titel – und man könnte etliche andere wählen – zeigt die Entwicklung: eine anfängliche Unsicherheit mit dem Swing-Idiom, die vor allem im Rhythmischen spürbar ist und in überzogenen oder einfach nur gegen den swing gesetzten Akzenten besonders deutlich wird; die wachsende Vertrautheit mit Arrangements, die aber immer noch wichtiger sind als improvisierte Solopassagen; und schließlich die Einbettung der inzwischen engagierten und vom Publikum beklatschten Solisten, die dem amerikanischen Original des Swing nacheifern und dabei immer wieder ganz eigene Höhepunkte erzielen.

      Wenn man Stauffers bis 1939 ausschließlich in Berlin eingespielte Aufnahmen hört, mag man am Erfolg des Versuchs, Jazz und Swing aus deutschen Tanzsälen zu verbannen, stark zweifeln. Tatsächlich aber hatte auch Stauffer regelmäßig Ärger mit Kontrolleuren der Reichsmusikkammer, doch als Schweizer konnte er es sich leisten, die Vorschriften etwas lascher zu sehen. Stauffer wurde besonders von Hans Brückner angefeindet, einem Schlagerkomponisten, der 1928 in die NSDAP eingetreten war und als Herausgeber der Zeitschrift Das Deutsche Podium (Fachblatt für Unterhaltungsmusik und Musik-Gaststätten) gegen den Jazz wetterte.

      Brückner hatte 1935 zusammen mit Christa Maria Rock das Buch Das musikalische Juden-ABC herausgebracht, in dem sie auf 175 Seiten gegen jüdische Komponisten, Librettisten, Musiker, Sänger und andere hetzten und das nach etlichen Protesten gegen inhaltliche Fehler selbst der Reichsmusikkammer zu ideologisch war.117 Mutmaßlich spielte aber auch Eitelkeit eine gewisse Rolle. Nachdem Stauffer im Oktober 1936 Brückners Schnulze »Zwei Schwalben haben sich geküsst« aufgenommen hatte, ließ dessen Kritik nach. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war Stauffer in Zürich engagiert. Er besuchte 1941 die USA und entschied sich, nachdem er dort keine Aufenthaltsgenehmigung erhalten hatte, in Acapulco im benachbarten Mexiko einen Nachtclub zu eröffnen.

      Was ist Jazz in Nazi-Deutschland?

      Viele der Berliner Orchester waren international aufgestellt, hatten also Musiker aus anderen Ländern in ihren Reihen – eine Tatsache, die auch von der Presse wahrgenommen und als Beispiel für die Internationalität der aktuellen Tanzmusik betont wurde. Über die Besetzung der Band Georg Nettelmanns etwa heißt es in der Zeitschrift Der Artist: »Selbstverständlich birgt ein so internationales Orchester auch Auslandsmusiker, wogegen nichts einzuwenden ist, wenn es sich um erhöhte künstlerische Leistungen der Betreffenden handelt.«118

      Die Zahl der Musik-Spielstätten hatte nach einer kurzen Flaute Anfang der 1930er Jahre nicht abgenommen, weder in Berlin noch anderswo. Knud Wolffram zeichnet in seinem Buch über Tanzdielen und Vergnügungspaläste das Berliner Nachtleben der 1930er und 1940er Jahre nach. Er nennt die großen Ballsäle und Vergnügungsstätten, die meist bereits zu Zeiten der Weimarer Republik gegründet worden waren und in den 1930er Jahren fortbestanden, den Delphi-Palast etwa mit über 500 Sitzplätzen im großen Saal, die Femina mit nicht weniger Kapazität und – wie die meisten dieser Häuser – mit Tischtelefonen, mithilfe derer man Kontakte im Saal anknüpfen konnte, das Moka Efti, das ab 1933 gleich zwei Locations besaß, in der Friedrichstraße sowie am Tiergarten, die Barberina und andere. In solchen großen Ballsälen wurde schon darauf geachtet, dass die Musik – und insbesondere das Tanzen – nicht zu wild wurden. Dafür gab es neben den bekannten (und für Jugendliche oft zu teuren) auch kleinere Lokale, Szenekneipen sozusagen, in denen weniger der Tanz als vielmehr die Musik im Vordergrund stand. In Berlin waren solche Treffpunkte der Swing-begeisterten Jugendlichen etwa der Groschenkeller in der Kantstraße oder die Orangerie in Schöneberg, in Frankfurt das Café Hauptwache oder die Rokoko-Diele in der Kaiserstraße. In Hannover waren im Georgspalast noch Bigbands zu hören. In Hamburg traf man sich im Trocadero an der Großen Bleichen oder im Alsterpavillon, und in den meisten anderen Großstädten in Deutschland gab es ähnliche Treffpunkte, die mal öffentlicher, mal privater ausgerichtet waren, wo aber jedenfalls Musik gemacht, Musik gehört oder zu Musik getanzt wurde, je nachdem, wie offen die Betreiber der Musik und den jungen Gästen gegenüber waren.

      Besucher in der Ausstellung »Entartete Musik«, Düsseldorf 1938

      Es gab also Jazz in Nazi-Deutschland, und Musiker konnten, sofern sie nicht jüdisch waren und damit unter die nationalsozialistischen Rassengesetze fielen, durchaus ihre Karriere fortsetzen, Konzerte oder Ballabende spielen, Tourneen unternehmen oder Schallplatten produzieren. Der Blick der Kontrolleure richtete sich neben dem »Wer« vor allem aufs »Was« und aufs »Wie«, also auf das Repertoire und das Auftreten der Band. Als 1938 in Düsseldorf in Anlehnung an die Ausstellung »Entartete Kunst« eine Ausstellung mit dem Titel »Entartete Musik« ausgerichtet wurde, hob man darin neben der als »undeutsch« diffamierten Musik von Arnold Schönberg, Paul Hindemith, Ernst Krenek oder Hanns Eisler insbesondere auch den Jazz hervor – so sehr, dass das Plakat zur Ausstellung einen als Affen karikierten Schwarzen mit Judenstern und Saxophon zeigte. Auf der anderen Seite gab es zwischen dem als unwürdig erkannten Jazz und der positiv sanktionierten »Neuen Deutschen Tanzmusik« nur einen graduellen Unterschied, der manchmal Auslegungs-, manchmal Interpretationssache war und mit dessen unklaren Übergängen, wie wir gleich sehen werden, die Musiker trefflich spielen konnten. Vielleicht waren es einzelne sehr augenfällige Dinge, wie etwa das gerade erwähnte Ausstellungsplakat, dass sich die Mär, es habe deutschlandweit ein striktes Jazzverbot geherrscht, nach 1945 allmählich verfestigte. Tatsächlich hat der Rückblick auf die Geschichte des Dritten Reichs und der Fokus auf den Jazz als eine von den Nazis verfolgte Musik zu einer verkürzten Vorstellung von einer klaren Opposition von nationalsozialistischer Kulturpolitik und Jazz geführt. Die grundsätzliche Ausrichtung dieser verbreiteten Vorstellung ist inhaltlich natürlich gerechtfertigt, das sollte bereits klar geworden sein, hinsichtlich Ausprägung, Ausmaß und Widersprüchen aber muss man differenzieren.

      Richtig ist, dass der Begriff »Jazz« und alles, was damit zusammenhing, seit der Machtübernahme der Nazis gezielt bekämpft wurden. Die bereits beschriebene Unklarheit in der Definition und die Erkenntnis, dass die damalige Swingmusik einfach zu populär war, als dass man sie einfach hätte unterbinden können, führte zu dem Versuch einer zähmenden und formenden Umarmung. Man nutzte Möglichkeiten zur Umbenennung und versuchte, für die Unterscheidung von systemgenehmer und systemfeindlicher Tanzmusik zu sensibilisieren. Eine ganze Weile also gab es durchaus noch einen Unterschied zwischen öffentlichen Verlautbarungen und tatsächlichem Durchgreifen der Behörden. Spätestens aber mit dem Ausbruch des Kriegs wurde noch schärfer auf die Einhaltung kultureller Sittenregeln geachtet. Das Propagandaministerium verfügte jetzt, dass Werke, die dem »nationalen Empfinden« widersprachen, nicht zu Gehör gebracht werden durften. Im November 1941 wurde die Aufführung von »Werken feindländischer Komponisten« untersagt,119 was nach Kriegseintritt der USA insbesondere auch die meisten Standards amerikanischer Provenienz