Die Pausen nutzte ich oft dazu, aufs Klo zu gehen. Von der ersten Klasse an fühlte ich mich unbehaglich dabei, dass man nur in den Pausen auf die Toilette gehen konnte. Von daher musste sorgfältig geplant werden, ob ich es noch bis zur nächsten Pause aushalten würde oder ob ich nach jeder einzelnen Schulstunde die Toilette aufsuchen sollte. Meine Schwierigkeiten bei der Körperwahrnehmung zeigten sich nämlich auch darin, dass ich Probleme hatte, frühzeitig festzustellen, ob ich gerade Harndrang hatte oder nicht. Wenn ich musste, konnte ich daher oft auch nicht mehr lange warten oder aushalten. Aus diesem Grund entwickelte ich eine Art Tick: In unbeobachteten Momenten drückte ich mir mit beiden Händen kurz und fest von außen auf die Blase. So konnte ich Harndrang leichter und früher feststellen. Meine Mutter lachte meistens, wenn ich meinem Tick nachging und sie das mitbekam. Ich hatte dann immer das Gefühl, dass sie sich über mich lustig machte.
In der ersten Klasse hatte ich beobachtet, wie ein Kind aus unserer Klasse von den Mitschülern auf dem Boden festgehalten und gekitzelt wurde. Das war eine fürchterliche Vorstellung für mich, und ich bekam große Angst, dass mir das passieren würde. Folglich habe ich schon in der ersten Klasse damit begonnen, mich von meinen Mitschülern fernzuhalten, da ich sie als eine Quelle drohender Gefahr wahrnahm. Dadurch war ich und fühlte mich auch häufig alleine, hatte aber kaum den Stress, dass mich andere Kinder ärgerten. Ich war einfach immer zu weit von ihnen entfernt. Allerdings musste ich gleichzeitig sorgfältig aufpassen, dass niemand mitbekam, dass ich alleine war, weil ich fürchtete, sonst doch zur Außenseiterin zu werden.
Während der großen Pausen spielten die Mädchen meiner Klasse an einem Baum und mit einem Seil »Pferd«. Damit konnte ich nichts anfangen, also spazierte ich auf dem Schulhof herum. Zwei Jungen aus meiner Klasse kamen recht bald auf die Idee, mir hinterherzulaufen, was mich sehr störte. Ich nannte sie still für mich »die Dummen«, erzählte meiner Mutter davon und fragte sie, was ich dagegen tun sollte. Sie meinte, ich solle so tun, als ob mir das alles nichts ausmachen würde, dann würden die beiden von selbst das Interesse daran verlieren. Leider half das gar nichts. Trotzdem folgte ich von da an der Empfehlung meiner Mutter, immer so zu tun, als mache mir nichts etwas aus. So lernte ich zwar nicht, mich mit anderen Kindern auseinanderzusetzen, umschiffte aber geschickt mögliche soziale Klippen und kam so ganz gut durch die Schulzeit.
In der vierten Klasse bekamen wir eine neue Mitschülerin, Miriam, die ich spontan sehr sympathisch fand. Ich freundete mich schnell mit ihr an und wir verbrachten in dieser letzten Schulklasse der Grundschule viel Freizeit miteinander. Miriam besaß einen eigenen Kassettenrekorder mit Radio. Oftmals nahm sie aktuelle Hits aus der Hitparade auf. Durch sie lernte ich Popmusik kennen, besonders Neue Deutsche Welle, Nena und Udo Lindenberg, was mir gut gefiel. Anfangs dachte ich, dass die Lieder im Radio nicht von den echten Sängern gesungen würden, sondern von weniger bekannten Sängern nachgesungen seien. Ich dachte, das Radio könne es sich nicht leisten, die Lieder dieser teuren bekannten Sänger zu spielen.
Zu Hause kam ich nicht in Kontakt mit Populärmusik, die meine Eltern, insbesondere meine Mutter als niveaulos ansah. Sie kam aus einer Musikerfamilie. Ihr Großvater war Organist, ihr Vater hatte sich selbst das Klavierspielen beigebracht und spielte sehr schwere Stücke von bekannten Komponisten. Auch meine Oma spielte Klavier. Im Elternhaus meiner Mutter fanden oft Kammermusikkonzerte statt, und alle vier Kinder lernten ein Instrument. Meine Mutter erzählte uns Kindern, dass ihre Eltern jede andere als klassische Musik geringschätzten. Diese Ablehnung von Populärmusik hatte sie internalisiert, sodass ich mich nie traute, zu Hause derartige Musik zu hören, obwohl ich sie mochte. Hätte ich diese »minderwertige« Musik gehört, wäre auch ich selbst dadurch abgewertet worden, und das hätte ich nicht ertragen.
Bei Miriam zu Hause gab es ein Buch, den »Knigge«. Darin war beschrieben, wie man sich in sozialen Zusammenhängen zu verhalten hat. Ich war sehr angetan von diesem Buch und las oft darin.
In der fünften Klasse lernte Miriam, die eineinhalb Jahre älter war als ich, leider ein anderes Mädchen kennen, mit dem sie sich schnell anfreundete. Ich war plötzlich völlig abgeschrieben und uninteressant für sie geworden. Heute weiß ich, dass das vermutlich damit zusammenhing, dass sie schon längst in der Pubertät war, während ich aufgrund meiner körperlichen und vor allem auch psychischen Entwicklung noch Kind blieb. Doch damals litt ich sehr unter dieser Zurückweisung, die ich nicht begreifen konnte. Ich kam nicht auf die Idee, dass wir vielleicht auch zu dritt miteinander befreundet sein könnten. Ich hätte allerdings auch nicht gewusst, wie das geht. Also zog ich mich zurück und hoffte – getreu dem, was meine Mutter mir in Bezug auf die beiden Jungen in der Grundschule geraten hatte –, dass Miriam nicht bemerken würde, wie sehr mir das Ende unserer Freundschaft zu schaffen machte.
Fortan löste ich das Problem meines Alleinseins, indem ich während der großen Pausen immer zügig über den Schulhof lief. Wenn mich andere Kinder dann sahen, dachten sie vielleicht, dass ich jemanden suche (so meine Fantasie), und kämen nicht auf die Idee, dass ich in Wirklichkeit allein war. Die fünfte und sechste Klasse waren dann auch die extremsten Jahre, in denen ich in den Pausen immer »suchend aussehend« über den Schulhof lief. Eine andere richtige Freundin fand ich in meiner Klasse nicht. Ich hatte zu niemandem einen Draht und fühlte mich sehr alleine.
Schuschisch
Meine Mutter las meiner Schwester und mir oft aus dem Buch »Urmel aus dem Eis« von Max Kruse vor. Damals war ich zehn oder elf Jahre alt und Simone sechs. In dieser Geschichte gibt es verschiedene Tiere, denen Herr Professor Habakuk Tibatong das Sprechen beigebracht hat, die jeweils einen individuellen Sprachfehler haben. Mir hatte es besonders der Schuhschnabel »Schusch« angetan, der statt eines »i« immer ein »ä« benutzte. Fortan entwickelte ich auf der Basis der Sprechweise des Vogels Schusch die Sprache »Schuschisch«. Meine Mutter liebte es, wenn ich schuschisch sprach, sie fand das ungemein kreativ. Mein Vater konnte damit gar nichts anfangen und lehnte es ab. »Äsch bom dr Wockl Schosch« hieß zum Beispiel »Ich bin der Vogel Schusch«. Ich sprach vor allem dann schuschisch, wenn ich meinen Gefühlen Ausdruck verleihen wollte, was ich in der normalen Sprache nicht konnte. Ich sagte oder schrieb zum Beispiel meiner Mutter auf einen Zettel, dass ich »drouräg« war, was »traurig« bedeutete. Oder ich fragte sie: »Mugscht mäsch?« Das hieß: »Magst du mich?« Leider erkannte meine Mutter bei ihrer Begeisterung für das Schuschische nicht, dass ich mich oft traurig fühlte und eigentlich Zuspruch und Trost von ihr benötigt hätte. Sie war so auf die angebliche Kreativität dieser Sprache versessen, dass sie mein dahinterstehendes Bedürfnis nicht sah. Außerhalb meiner Familie sprach ich niemals Schuschisch, denn es wäre mir peinlich gewesen und hätte mich verletzlich gemacht.
Der Vogel Schusch war, ähnlich wie später das Würzel, meine Ausdrucksmöglichkeit für Bedürfnisse und Gefühle (die ich im Alltag nicht hatte).
Zwischen dem Vogel Schusch, der etwa bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr existierte beziehungsweise in meinem Leben eine Rolle spielte, und dem Würzel, das in meinem 26. Lebensjahr entstand, lagen zeitlich gesehen ungefähr zehn Jahre.
Ab dem fünfzehnten Lebensjahr bis zum Ende meiner Schulzeit war ich die meiste Zeit überzeugt davon, dass ich keine Gefühle hatte. Ich spürte mich nicht, zeigte auch keine Gefühle nach außen. Zudem litt ich in diesen zehn Jahren unter Essstörungen.
Prägung
Zäsur
Am Mittwoch, dem 15. Februar 1984, ich war knapp dreizehn Jahre alt, zogen wir weg von Oberursel in eine Kleinstadt in der Nähe von Hannover. Am folgenden Montagmorgen klopfte meine Mutter zusammen mit mir an die verschlossene Tür einer mir zugeteilten siebten Gymnasialklasse