Der Autismus ist nun nicht nur im Leben der Autorin lange versteckt geblieben, sondern auch im Text des vorliegenden Buches über weite Strecken wenig sichtbar. Aber an Stellen wie der folgenden wird dann plötzlich deutlich, wie fundamental anders das Leben und seine sozialen Bezüge wahrgenommen und prozessiert werden: »(…) und ich erinnerte mich an eine Situation von früher, in der mir klar geworden war, dass Beziehungen zu anderen Menschen nicht allesamt identisch waren, sondern dass jede Beziehung anders war. Das hatte ich lange Zeit nicht verstanden. Zum Beispiel war ich während des Studiums davon ausgegangen, dass alle Beziehungen und Kontakte, die man hat, die gleiche Art von Nähe und Intimität aufweisen.« Man ahnt vor diesem Hintergrund immer wieder, wie anstrengend es gewesen sein muss, trotz des basalen Unterschiedenseins eine »neurotypische Oberfläche« zu produzieren. Das mehrfach (und retrospektiv auch kritisch) zitierte »Ich kann, was ich will!« wird in seiner Kraft an vielen Stellen deutlich, am Ende aber lässt sich das Buch als starkes Plädoyer für die Aussöhnung mit dem eigenen Sosein lesen, für die Akzeptanz der eigenen Grenzen, für das damit verbundene Loslassen des Kampfes und das Zulassen von Glück.
Interessanterweise wird auch der Text nach dem autistischen Schub, also der Hinwendung zu den eigenen autistischen Anteilen, spürbarer und entwickelt Sog und Kraft, auch wenn oder gerade weil die Autorin plötzlich das wird, was sie schon immer war: sie selbst und somit anders als viele ihrer Mitmenschen. Die Metamorphose zum eigenen Sosein, das in vielerlei Hinsicht nicht »passt« – zur Arbeitswelt, zu den Klischees eines Menschen und zum Selbstentwurf –, ermöglicht am Ende lebendige Kontakte und Beziehungen und auch ein Wieder-offen-Werden für die vielen Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen.
Das Buch ist mindestens ebenso, wie es ein Buch über hochfunktionalen Autismus ist, ein Buch über den Wandlungsprozess in der Psychotherapie/Psychoanalyse. Und da die Autorin Psychotherapie von beiden Seiten her kennt und wie nebenbei die eigenen inneren Transformationsprozesse reflektieren kann, gelingt ihr die Darstellung der Psychoanalyse in außerordentlicher Dichte, immer wieder erinnernd an Tilmann Mosers »Lehrjahre auf der Couch«. Psychotherapie zeigt sich hier als die Kunst, den oft schwierigen und hochgradig beängstigenden Weg zu sich selbst zu begleiten, ohne Vorgaben durch Normen, wie der Mensch zu sein habe, was er wollen müsse und was seine natürlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse seien. Das Buch zeigt, dass Psychotherapie dort ihre Stärke gewinnt, wo sie ihre eigenen Interpretationsschemata und impliziten Stereotypien davon, was Menschsein ist, infrage zu stellen wagt. Und es ist ein starkes Argument für Psychotherapie ohne vorgegebene Weg- und Zielvorgaben. Es bleibt mir noch, dem Buch eine neugierige, offene und vielleicht sogar lernbereite Leserschaft zu wünschen.
PD Dr. med. Dr. phil. Andreas Riedel
Spezialambulanz für Autismus-Spektrum-Störungen
im Erwachsenenalter
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
am Universitätsklinikum Freiburg i. Br.
Prolog
September 2011.
Ich stehe mit Anna an einer Tischtennisplatte in einem kleinen Park in Frankfurt am Main. Gerade haben wir in einem nahe gelegenen Café einen Cappuccino getrunken. Anna hatte vorgeschlagen, ein bisschen Tischtennis zu spielen.
Aber meine Gedanken sind woanders.
Heute habe ich endgültig meine berufliche Wiedereingliederung als Leitung eines Psychosozialen Zentrums aufgeben müssen. Ich bin eindeutig zu krank dafür. Kann nicht mehr. Kann gar nicht mehr.
Seit vielen Jahren bin ich ausgebrannt. Jetzt ist wohl das Ende da.
Wie soll mein Leben weitergehen? Muss ich in Rente gehen? Mit nur vierzig Jahren? Ein entsetzlicher Gedanke.
Meine Welt bricht zusammen. Wieder einmal.
Herkunft
Dass ich tatsächlich anders war als andere Menschen, war mir lange Zeit nicht wirklich bewusst. Das lag daran, dass ich Persönlichkeit als etwas ansah, was man bei sich selbst beliebig formen und gestalten kann. Der Satz »Ich kann, was ich will!« formte sich in mir schnell zu dem Glauben »Ich kann sein, wer ich will!«. Ich wusste nicht, dass jeder Mensch von Natur aus bestimmte Anlagen mitbringt, die seine Identität zu einem großen Teil determinieren. Meine Mutter hatte mir von früh an vermittelt, dass es wichtig sei, lustig und fröhlich zu sein, damit andere Menschen Interesse daran hätten, mit mir zusammen zu sein. Dieser Maxime, die meiner eigentlichen Persönlichkeit zutiefst widersprach, folgte ich über viele Jahre – in der Hoffnung, auf diese Weise endlich guten Kontakt zu anderen Menschen herstellen zu können. Durch dieses anhaltende Bemühen meinerseits, anders zu sein, als ich war, dauerte es auch so lange, bis ich schließlich im Alter von 39 Jahren als Asperger-Autistin diagnostiziert wurde.
Aber ich will von Anfang an erzählen.
Auf der Welt
Ich war das erste Kind meiner Eltern und kam an einem sonnigen Mittwoch im März 1971 in der Münchner Uniklinik auf die Welt – unterstützt von einer Saugglocke, da ich etwas schräg im Mutterleib lag. Direkt nach der Geburt erbrach ich alles, da ich wohl Fruchtwasser geschluckt hatte, und hatte Saugschwierigkeiten, also wurde ich die ersten sechs Tage künstlich ernährt. Gestillt worden bin ich nicht.
Gesprochen habe ich schon sehr früh, laufen gelernt jedoch erst im siebzehnten Lebensmonat. Das weiß ich so genau, weil meine Mutter in meinen ersten Lebensjahren für eine Forschungsstelle der Münchner Uniklinik meine Entwicklung genau protokolliert hat.
Meine Mutter bemühte sich von früh an darum, dass ich mit anderen Kindern spiele. Immer wieder setzte sie mich in den Sandkasten zu Gleichaltrigen, aber ich krabbelte immer zu ihr zurück. Sie tat das, so sagt sie heute, weil sie selbst als Kind nie mit Gleichaltrigen spielen durfte und sie ihre eigenen Kontaktschwierigkeiten darauf zurückführte. Mit drei Jahren kam ich in den Kindergarten, kurz nachdem wir von München nach Oberursel im Taunus, in die Nähe von Frankfurt am Main gezogen waren. Ich weinte nach Aussage meiner Mutter immer sehr lange, wenn sie mich morgens im Kindergarten abgab. Erinnerungen an die Kinder aus meiner Gruppe oder was ich dort gespielt hätte, habe ich nicht. Es gibt nur ein Mädchen, mit dem ich auch außerhalb des Kindergartens weiter befreundet war.
Vor einiger Zeit habe ich mit meiner Mutter sämtliche Fotos aus meiner Kinderzeit angeschaut. Dabei ist uns aufgefallen, dass ich bis zum Alter von etwa drei Jahren stets fröhlich und aufgeweckt auf den Bildern wirkte. Vom dritten oder vierten Lebensjahr an sehe ich jedoch fast immer ernst und verschlossen aus. Ob das nun an dem Umzug von München nach Oberursel lag, daran, dass ich nun in den Kindergarten ging oder an dem beginnenden Asperger-Syndrom, lässt sich im Nachhinein nur schwer beantworten.
Das große Ehebett meiner Eltern beziehungsweise genauer gesagt der Raum darunter war eine Schatzkiste für mich. Man konnte nämlich unter das Bett krabbeln, wo lauter interessante Sachen verstaut waren, zum Beispiel alte Schuhe oder auch die Stöckelschuhe meiner Mutter, über die ich mich schon als kleines Kind lustig gemacht habe, weil ich nicht verstand, wieso erwachsene Frauen so unpraktische Schuhe anzogen, in denen man kaum laufen konnte. Was ich auch sehr geliebt habe, war der Raum unterhalb des Arbeitstisches meiner Mutter im Elternschlafzimmer. Gelegentlich habe ich Decken über den Tisch gelegt und mir dort eine Höhle gebaut, in der ich mich gut geschützt aufhalten konnte.
Frühes Leid
Kurz vor meinem fünften Geburtstag, als meine Mutter mit meiner Schwester schwanger war, brachten mich meine Eltern zu einer Kinderpsychologin,