In der Schule hatte ich schon lange das Gefühl, jeden Tag auf extrem anstrengende Art und Weise neu beginnen zu müssen, ohne auf meine bisherigen sozialen Fähigkeiten zurückgreifen zu können. Wenn ich in der ersten Stunde im Unterricht saß, fühlte es sich so an, als ob es eine unsichtbare Mauer zwischen mir auf der einen Seite und den anderen Schülern und dem Lehrer auf der anderen Seite gäbe. Meine Sprache war in meinem Körper gefangen, ich konnte sie nicht herauslassen, denn sie wäre an dieser Mauer nach innen auf mich zurückgeworfen worden, ohne dass die anderen Menschen meine Worte hätten hören können. Trotzdem zwang ich mich täglich zum Sprechen im Unterricht, da ich auch mündlich die Noten haben wollte, die meinem schulischen Leistungsstand entsprachen. Die ersten Worte, die ich mich dann jeden neuen Tag im Unterricht sagen hörte, fühlten sich immer völlig selbstentfremdet an. Ich hörte mich selbst wie von außen, hatte dabei nicht das Gefühl, dass die Worte aus meinem eigenen Körper kamen. Mithilfe dieser ersten Sätze, die ich unter jeweils großer Kraftanstrengung aus mir herausbrachte, gelang es mir jedoch, die unsichtbare Mauer immer wieder zu durchbrechen. In den folgenden Stunden konnte ich mich im Unterricht mündlich beteiligen und war zuweilen sogar recht redselig – bis zum nächsten Tag, da ging alles wieder von vorne los.
Der siebzehnte Geburtstag war der schlimmste überhaupt. Ich wusste nicht, wen ich einladen sollte, denn innerhalb der Springergruppe feierte man nicht zusammen Geburtstag. Gleichzeitig dachte ich, dass ich das endlich einmal tun sollte, und lud deshalb meine ganze Klasse zu mir ein. Es kam aber nur ein Junge. Ich schämte mich entsetzlich und versuchte gleichzeitig, mir das nicht anmerken zu lassen – zeig niemals, dass du verletzlich bist!
Ich erinnere mich auch, dass ich in meiner Jugendzeit darauf hoffte, bald mein eigenes Leben zu beginnen, um dann endlich eine Psychotherapie machen zu können. Während ich noch zu Hause wohnte, kam das für mich nicht infrage, denn dann hätte ich vor meinen Eltern zugeben müssen, dass es mir nicht gut ging, und ihr Bild ihrer kompetenten Tochter wäre zusammengebrochen.
In unserer Familie herrschte vor allem bezogen auf die Bewertung durch meine Mutter eine Art Rollenverteilung. Ich war in ihren Augen diejenige, bei der alles glattlief, die mit dem Leben und der Schule bestens und ohne jegliche Hilfestellung zurechtkam. Meine Schwester wurde von meiner Mutter konstant als »Problemkind« betrachtet, was ich nicht nachvollziehen konnte. Oftmals wehrte ich mich gegen diese Zuschreibungen, aber es hatte keinen Zweck. Ich blieb festgelegt auf diese hochfunktionale Rolle, in der ich mich nicht wiederfand und nicht in meiner wahren Persönlichkeit gesehen fühlte. Ich wusste, dass ich Hilfe benötigte, aber ich kam nicht auf die Idee, sie in der Gegenwart zu suchen, d. h. mir aktuell ein professionelles Gegenüber zum Reden zu suchen. Ich wagte auch nicht, mit anderen über diese bedrohlichen Themen zu sprechen. Sie mussten mich für völlig verrückt halten, wenn sie davon erfahren würden. Ich hatte Angst vor der Psychiatrie und davor, einem professionellen Helfer gegenüberzusitzen, der dann sehen würde, wie extrem krank ich wirklich war, und der mich dann vielleicht in die Psychiatrie einweisen würde. Zudem dachte ich: Wenn ich erzähle, wie es mir wirklich geht, werde ich völlig verrückt. Indem ich diese bedrohlichen Gefühle und Gedanken für mich behielt, hatte ich sie einigermaßen unter Kontrolle. Solange ich sie nicht aussprach oder aufschrieb, existierten sie nicht.
Dann gab es da noch dieses Problem mit dem Essen. Angefangen hatte es beim Springlehrgang in Italien und im darauffolgenden Urlaub mit meinen Eltern. Ein Faktor bei der Entstehung meiner Essstörungen war vermutlich das regelmäßige Wiegen beim Training und entsprechendes Lob beziehungsweise entsprechende Kritik durch unseren Trainer. Ich fing an, mein Essen zu kontrollieren, es mit dem Kopf zu steuern. Wenig zu essen und gesunde Nahrungsmittel zu sich zu nehmen, war gut. Viel und Ungesundes zu essen, war schlecht. Wenn mein Vater als Nachtisch nach dem Mittagessen einen Fruchtquark zubereitet hatte, fragte ich ihn immer, ob er Zucker hineingetan hatte. War nur ein Hauch Zucker darin, verweigerte ich den Nachtisch. Mein Ziel war nicht unbedingt, viele Kilos abzunehmen, sondern nur ein bisschen. Ich wollte durchaus meinen athletischen Körper behalten, wie er war. Gleichzeitig beschäftigte ich mich, angeregt von meiner Mutter, mit gesunder Ernährung und der Schädlichkeit von Zucker. Meine Gedanken kreisten derartig zwanghaft um meine Nahrungsaufnahme, dass ich an manchen Tagen in der Schule Mühe hatte, dem Unterrichtsstoff zu folgen. Ständig überlegte ich, was ich wann essen würde und wie viel ich heute schon gegessen hatte. Ich war völlig fixiert auf dieses Thema. Dabei wollte ich meinem Körper nicht schaden, es war nicht so, dass ich ihn gehasst hätte. Außer wenn ich zu viel gegessen hatte – eine Folge meiner manchmal zu geringen und rationierten Nahrungsaufnahme. Es konnte schon vorkommen, dass ich bei einem Fressanfall doppelt oder dreimal so viel aß, wie mir guttat, und mich danach extrem schlecht, dick und unbeherrscht fühlte. Das passierte regelmäßig am Abend nach dem Training sowie am Wochenende, wenn ich nach einem Wettkampf oder Lehrgang nach Hause kam und nichts vorhatte. Ich reagierte auf solche Essattacken mit Selbstabwertung und extremer Enttäuschung über mich selbst sowie mit dem Versuch, erst wieder Essen zu mir zu nehmen, wenn mir der Magen knurrte. Glücklicherweise habe ich mir niemals nach dem Essen den Finger in den Hals gesteckt und mich wieder erbrochen und auch nie zu Abführmitteln gegriffen.
In meinem Tagebuch analysierte ich, siebzehnjährig, meine Essattacken. Ich fand heraus, dass sie immer dann auftraten, wenn ich negativ gestimmt war. Entsprechend war meine Schlussfolgerung, dass ich darauf achten müsste, immer positiv gestimmt zu sein. Gemäß der Sichtweise meiner Mutter, die ich schon längst übernommen hatte, handelte es sich bei der eigenen Stimmung ja um etwas, was man willentlich beeinflussen konnte. Es war eine Frage des Wollens, ob man gut oder schlecht gelaunt war! Damit meine Stimmung positiv und ich voller Selbstvertrauen wäre, müsste ich einfach dauerhaft ein positives Bild von mir haben und positiv von mir selbst denken. Nur wenn ich über ein positives Selbstbild verfügte, konnte ich kontrolliert essen, also musste ich zuerst dieses positive Selbstbild entwickeln. Aber wie konnte ich das schaffen?
In einer Buchhandlung fand ich ein esoterisches Buch über kreatives Visualisieren und das »Höhere Selbst«, das in jedem Menschen verborgen ist und zu dem man nur Zugang finden muss. Ich las und schrieb Sätze auf wie zum Beispiel: »Das Gute ist in mir. Ich bin voller positiver Kraft und Energie, Ruhe und Gelassenheit.« Oder: »Das Licht meines Höheren Selbst strahlt jetzt in mir.« Ich versuchte, mir diese Sätze bildlich vorzustellen und an sie zu glauben. Im Grunde ging es bei diesen Affirmationen um die Macht des Positiven Denkens, der ich damals folgen wollte. Heute sehe ich das sehr kritisch. Damals kaufte ich mir jedoch eine Kassette mit dem Titel: »Ich kann, was ich will«. Über mehrere Wochen hörte ich sie mir täglich an. Danach glaubte ich tatsächlich fest daran – und das über die nächsten zwei Jahrzehnte –, dass ich alles können würde, wenn ich es nur fest genug wollte. Ein fataler Trugschluss, wie sich aber erst nach vielen Jahren herausstellte.
Einmal hörte ich diese Kassette zusammen mit meiner Mutter an. Dazu legten wir uns auf Decken auf den Boden, und ich sagte ihr, sie solle sich ganz auf den Text einlassen. Nach dem Hören fragte ich sie, wie sie es empfunden habe. Leider konnte sie damit überhaupt nichts anfangen. Sie sprach aber auch nicht weiter mit mir darüber, fragte mich nicht, warum ich mich mit derartigen Sachen beschäftigte. Also machte ich fortan alleine weiter. Mit anderen Menschen sprach ich niemals über meine Versuche, mittels Suggestionen mein Selbstvertrauen zu steigern. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass ich das hätte tun können.
Auch das Autogene Training, ein anerkanntes Entspannungsverfahren, arbeitet mit der Macht von körperbezogenen Vorstellungen. Man sagt sich zum Beispiel: »Meine Arme und Beine sind strömend warm«, auch wenn das gerade gar nicht der Fall ist. Tatsächlich werden die Arme und Beine durch diese Vorstellungsübung auch wirklich warm, wenn man in dieser Technik geübt ist.
Ich glaubte