Bei einem Lehrgang schlief ich in einem Dreibettzimmer zusammen mit zwei gleichaltrigen Springerinnen. Am späteren Abend kam einer der älteren Springer zu uns ins Zimmer und schlüpfte zu einer der beiden unter die Decke. Ich erstarrte vor Angst, weil ich dachte, dass die beiden annehmen würden, ich sei schon eingeschlafen. Ich fürchtete, sie würden bemerken, dass ich doch noch wach war, und dann sehr erschrocken oder sogar wütend auf mich sein.
An Weihnachten vor meinem fünfzehnten Geburtstag bekam ich ein Tagebuch geschenkt. Wenn ich nach den Tagebuchnotizen gehe, gewinne ich den Eindruck, dass es mir sowohl in der Zeit mit Jenny als auch in der Anfangszeit des Springens psychisch relativ gut ging. Auffällig ist jedoch, dass ich sehr darauf bedacht war, dort möglichst nichts Negatives zu schreiben. Diese sehr kontrollierte Art des Tagebuchschreibens änderte sich erst mit meinem Auszug von zu Hause. Aus einem Eintrag entnehme ich beispielsweise indirekt, dass das Meerschweinchen Butzilein meiner Schwester gerade gestorben war. Statt darüber zu schreiben und wie es mir und meiner Schwester damit ging, zähle ich im Tagebuch Verhaltensweisen auf, die mir bei der Bewältigung eines solchen Unglücks in Zukunft sinnvoll erscheinen:
1. Keinen Panikausbruch kriegen!
2. Sich klarmachen, dass jedes Tier nicht ewig leben kann.
3. Ruhig gleich in die Stadt gehen und sich ein neues Tier kaufen. Das aber nicht überstürzt in der Aufregung tun, sondern sich das erwählte Tier erst noch einmal näher auf Krankheiten angucken. Wenn möglich zum Züchter gehen.
4. Wenn es geht, das neue Tier aufgrund der Gefahr von Erkältungskrankheiten möglichst nicht im dicksten Winter, sondern eher zu der wärmeren Jahreszeit kaufen.
5. Sich auf jeden Fall nicht »gehenlassen«! Den gewohnten Nachmittagsplan, wenn irgend möglich, beibehalten und auch zur Schule gehen.
Es findet sich ebenfalls kein Eintrag in meinem Tagebuch dazu, dass einige Monate später mein Kaninchen Schnupperle starb. Stattdessen ist zu lesen, dass ich ein neues Kaninchen, Seppelchen, vom Züchter geholt habe und wie sehr ich mich darüber freue.
Ich hatte immer Angst, dass meiner Familie etwas zustoßen könnte. Aus diesem Grund betete ich, obwohl ich eigentlich nicht sonderlich gläubig war, jeden Abend dasselbe: »Lieber Gott, ich danke Dir für den heutigen Tag und ich bitte Dich, mach, dass kein Atomkrieg kommt und kein anderer Krieg und dass heute, morgen, übermorgen und allezeit nichts passiert und dass wir alle noch lange gesund und glücklich leben und mit ein bisschen Geld: Mami, Papi, Birgit und Simone, Butzilein und Schnupperle. Danke, danke, danke, lieber Gott. Amen.« Außerdem schreibe ich in diesem Tagebuch ziemlich genau auf, welche Sprünge ich beim Training gelernt habe und worauf ich bei der Ausführung achten muss. Vom Springen bin ich in dieser Zeit noch total begeistert, von Angst keine Spur. Ich liebte die Körperkontrolle, Spannung und Ästhetik dieses Sports.
Mit sechzehn Jahren fuhr ich mit meiner Mutter und meiner Schwester das erste Mal in meinen Leben so richtig in Urlaub. Diesmal ging es für drei Wochen nach Kreta! Das war toll. Mein Tagebuch ist gefüllt mit detaillierten Schilderungen über unsere Aktivitäten dort.
In Kreta sprach mich an der Strandpromenade ein gleichaltriger Junge an. Ich war völlig erschrocken und hatte Angst, wusste überhaupt nicht, was ich jetzt tun soll. Zu ergänzen ist, dass mein Vater mir immer vermittelt hatte, dass mein Geschlecht nicht weiblich ist, auch nicht männlich, sondern »sportlich«. Das war für mich so etwas wie ein drittes Geschlecht. Mit meiner Weiblichkeit hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt also noch gar nicht auseinandergesetzt. Umso mehr fühlte ich mich jetzt überfordert, mit einem Jungen zu sprechen. Aber offensichtlich fingen Mädchen in meinem Alter normalerweise damit an, sich mit Jungen zu treffen, das zeigte ja mein Erlebnis am Strand!
Da ich diesbezüglich noch gar keine Erfahrungen hatte, beschloss ich, dass es nun an der Zeit wäre, sich damit zu beschäftigen. Also nahm ich das Angebot eines anderen jungen Mannes an, der mich am Strand auf eine Cola einlud. Ich verbrachte etwa eineinhalb Stunden mit ihm, in denen ich darauf achtete, dass ich nie mit ihm alleine war, denn das Ganze machte mir doch große Angst. Letzten Endes schwammen wir gemeinsam im Meer, aber nur dort, wo auch andere Menschen waren, und spielten zusammen Beachball. Die Auswertung dieser Erfahrung in meinem Tagebuch erbrachte die Erkenntnis, dass ich:
a) stolz auf mich war, dass ich meine Schüchternheit überwunden hatte und auf den Kontaktversuch eines jungen Mannes eingegangen war (der allerdings, wie ich erfuhr, schon 23 Jahre alt war und rauchte, das fand ich beides nicht so gut);
b) dass ich in Zukunft nicht mehr auf ein x-beliebiges derartiges Kontaktangebot eingehen wollte, sondern nur, wenn der Junge mir auch gefallen würde und in etwa gleichaltrig wäre.
Dieses Erlebnis blieb aber das einzige dieser Art in Kreta. Ich hatte es einmal gewagt und das war fürs Erste genug an Erfahrung.
Grenzen
Zurück in Deutschland, fing ich wieder mit dem Training in Wasserspringen an. Im Oktober, ich war damals sechzehneinhalb, bekam ich beim Training einen Weinkrampf. Ein älterer Springer hatte mich wiederholt kritisiert, als ich versuchte, zweieinhalb Salto vorwärts vom Drei-Meter-Brett zu lernen beziehungsweise Vorübungen dafür machte – mich, die ich so selbstkritisch war! Das hat mich total verletzt. Eine ältere Springerin, Susanne, setzte sich daraufhin neben mich, legte mir den Arm um die Schulter und streichelte mich am Kopf. Das kannte ich gar nicht, dass jemand einen so tröstet.
Meine Mitspringer sowie meine Trainer waren für mich die Menschen, bei denen ich mir in sozialer Hinsicht sehr viel abschaute. Meine Beobachtungen dazu finden sich in meinem Tagebuch wieder. Ich war dabei bemüht, über die Beobachtung ihres Verhaltens ihre Persönlichkeit zu ergründen. Dabei finden sich auch Auflistungen darüber, wen ich mochte und warum. Die Springer waren die Menschen, mit denen ich am meisten Zeit verbrachte und mit denen mich das große gemeinsame Interesse des Wasserspringens verband.
Meine Tage bestanden aus Schule, Hausaufgaben und Springen. Wenn ich abends gegen 21 Uhr vom Training zurückkam, stand das Abendessen noch auf dem Tisch, und meine Mutter setzte sich meistens zu mir. Das Wasserspringen bedeutete mir sehr viel und die Menschen dort waren wie eine richtige Familie für mich. Zumal die Eltern der anderen Springer oft in dem zum Schwimmbad gehörigen Café saßen und uns durch die trennende Glasfront beim Training zusahen. Wenn man dort hinkam, gab man erst einmal allen der Reihe nach die Hand. Ich akzeptierte das Händeschütteln als Ritual, und deshalb war es okay für mich. Meine Eltern kamen nie zum Zuschauen vorbei. Ich hatte es ihnen verboten, und sie hielten sich ohne weiteres Nachfragen daran. Es hätte mich total verunsichert. Ich fürchtete ihre Bewertung meiner Sprünge (Kritik ebenso wie Bewunderung) und hielt sie deshalb vom Wasserspringen gänzlich fern.
Nur wenige Tage nach meinem Weinanfall kugelte ich mir beim kopfwärts Eintauchen vom Turm das linke Schultergelenk aus. Heiko kugelte mir den Arm glücklicherweise gleich wieder ein. Auf dem Heimweg brachte er mich ins örtliche Krankenhaus zum Röntgen. Der Arzt gab mir für ein paar Tage ein Schmerzmittel mit. Als es aufgebraucht war, hatte ich außerordentliche Schmerzen, vor allem nachts, wenn sich die Schulter entspannte. Auf die Idee, deshalb noch mehr Schmerzmittel zu nehmen, kam ich jedoch nicht, sprach auch mit niemandem darüber. Ich dachte: »Die Tabletten sind alle, dann muss das wohl so sein.«
Am Tag nach dem Unfall ging ich mit dem Arm in der Schlinge zur Schule. Die Schulter tat sehr weh, aber ich nahm das alles als gegeben hin. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, deshalb nicht zur Schule zu gehen. Nach einer Woche kam die Schlinge ab und die Schulter war komplett versteift. Also musste ich regelmäßig zur Physiotherapie und die Schulter wurde gedehnt und gekräftigt. Mehrere Wochen konnte ich nicht am Training teilnehmen. Stattdessen machte ich exzessiv meine krankengymnastischen Übungen und ging öfter ins Schwimmbad-Café, um den anderen beim Training zuzusehen und bei meiner »Springer-Familie«