Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen. József Wieszt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: József Wieszt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991310266
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Rolle. Bei einer dieser Tauschfahrten, während der alle unter ständiger Angst vor Polizei- und Militärrazzien lebten, ereignete sich ein bemerkenswerter Vorfall. In der überfüllten Bahnhofshalle des Frankfurter Hauptbahnhofs standen meine Mutter und unsere Oma mit ihrem Tabak im Gedränge, als plötzlich Uniformierte hereinstürzten und eine Razzia begann. Wer noch durch einen der Seiteneingänge entfliehen konnte, hatte Glück. Meine Großmutter schaffte es nicht. Sie nahm das Bündel, das sie nach alter Gewohnheit auf dem Kopf trug, herunter, warf es auf den Boden und setzte sich darauf, wobei sie ihre drei, vier weiten Röcke, die sie stets übereinander trug, wie eine schützende Glocke über dem Tabakbündel ausbreitete. Sie saß da und rührte sich nicht. Keiner der kontrollierenden Uniformierten kam offenbar auf die Idee, dem alten Mütterchen in ihrer merkwürdigen schwarzen Tracht unter die Röcke zu gucken. Die Oma blieb unbehelligt, und der Tabak war gerettet. Diese Geschichte wurde uns Kindern oft erzählt, wenn man in der Familie auf die „alten Zeiten“ zu sprechen kam.

      Ich erinnere mich genau an den letzten Besuch bei unserer Oma kurz vor ihrem Tod. Lorenz und ich waren schon Studenten und besuchten die Großeltern nicht mehr so oft. Als wir dieses Mal ankamen, lag die Oma im Bett und sah nicht gut aus. Tante Resi hatte uns zuvor erzählt, sie sei schwer krank und werde bald sterben. Vermutlich litt sie an den Folgen einer Gelbsucht. Fünf Jahre vor ihrem Tod war ihr das Blut ausgetauscht worden. Sie sah schon damals aus, als würde sie bald sterben, hat aber noch fünf Jahre gelebt. Vor ihrem Tod war sie noch einmal ins Krankenhaus gekommen. Es bestand aber kaum noch Hoffnung. Da hat sie der Opa auf eigenes Risiko mit nach Hause genommen. Sie sollte zu Hause sterben.

      Wir hielten uns eine Weile am Bett der „Ahl“ auf und redeten oberflächlich daher. Vielleicht wollten wir damit unsere Unsicherheit und Besorgnis überspielen. Als wir uns dann verabschieden wollten, hielt sie mich beim Handgelenk fest und sagte mit flehentlichem Blick leise: „I wü neit sterm.“ („Ich will nicht sterben.“)

      „Ach Oma, Ihr sterbt schon noch nicht. Ihr werdet wieder gesund!“ („Ach Ahl, Eis sterbts sche nau neit. Eis werds sche widde gsund!“) Dann sagten wir ihr noch einmal auf Wiedersehen und gingen. Es war das letzte Mal, dass ich mit ihr gesprochen habe. Sie starb einige Tage nach unserem letzten Besuch. An ihre Beerdigung erinnere ich mich kaum. Sie war wie alle „Läichten“ ziemlich groß. Einen Totenschein habe ich weder von ihr noch von unserem Großvater je gesehen Nach Auskunft unserer Tante Resi hat sie noch am Tag vor ihrem Tod eine kleine Hausarbeit gemacht. Später tat es mir leid, dass ich mir damals nicht mehr Zeit für sie genommen habe. Beerdigungen waren für die Perbáler in Deutschland beliebte Gelegenheiten, zusammenzukommen und Erinnerungen auszutauschen. Wer irgend konnte, ging da hin, auch wenn er/sie nicht zur Verwandtschaft gehörte.

      Gemeinsames Grab in Laisa

      Aber wie war die Oma als Mädchen, als junge Frau? Ich habe leider versäumt, sie oder ihre Töchter und Söhne ausführlicher zu befragen. Jetzt lebt von ihnen niemand mehr. Aus den wenigen Informationen, die ich über sie habe, und aus der Kenntnis der Lebensverhältnisse in Perbál am Beginn des 20. Jahrhunderts kann ich dazu vielleicht Folgendes sagen.

      Die kleine Maria besuchte die Dorfschule und die „Sonntagsschule“. Ungarisch hat sie dort nicht gelernt, denn die Unterrichtssprache war damals noch Deutsch. In der Familie und im Dorf wurde unsere donauschwäbische Mundart gesprochen. Der Lehrer wird sich bemüht haben, den Bauernkindern Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Gesungen hat er sicher mit ihnen, und vielleicht hat er ihnen auch Geschichten aus Geschichte Ungarns und der Ungarndeutschen erzählt. Seine Erziehungsziele waren Gottesfurcht, Ordnung, Sauberkeit, Fleiß, Anstand und Sitte, Achtung der Regeln des dörflichen Zusammenlebens und Gehorsam gegenüber dem Lehrer, den Eltern und Großeltern, der Obrigkeit und der Kirche. Die Einhaltung der Zehn Gebote wurde den Kindern eingebläut, besonders in der Sonntagsschule. Der Verstoß gegen sie war eine Sünde oder Todsünde, die mit Fegefeuer oder ewiger Verdammnis bestraft wurde. Jeder derartige Verstoß musste gebeichtet werden. Die Beichte war ein anfangs auch von mir gefürchtetes Instrument, zur Offenlegung geheimer und geheimster Regungen und Taten. „Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Taten“, hieß die generelle Formel im Beichtstuhl, und es blieb „dem Beichtvater“ vorbehalten, da im Einzelnen nachzufragen. Eine peinliche Situation, der man sich nur entziehen konnte, wenn man im Beichtstuhl nicht die ganze Wahrheit sagt. Es dauerte eine Zeit, bis man deswegen kein schlechtes Gewissen mehr hatte

      Mädchen sollten zu sittsamen Jungfrauen, ehrbaren Bräuten, guten Ehefrauen und Müttern sowie zu tüchtigen Hausfrauen erzogen werden. Sie sollten ihren Eltern und ihrem künftigen Mann gehorchen, sie nach Kräften unterstützten und ihnen vor allem keine Schande machen. Denn die wurde sicher offenbar und öffentlich. Wenn eine junge Frau vor der Ehe geschlechtlich mit einem Mann verkehrte, und das im Dorf bekannt wurde, galt sie als Hure. „Sie is a Huur“, hieß es verächtlich. Wenn sie vor der Ehe schwanger wurde, konnte sie diesen Makel nur durch die Hochzeit wieder beseitigen. „In Weiß“ durfte sie aber in einem solchen Fall nicht gehen. Jede/r im Dorf sollte sehen, was sich da schon vor der Trauung ereignet hatte. Unsere Großmutter heiratete in Weiß. Wie erwähnt, hat sie insgesamt zwölf Kinder zur Welt gebracht. Sechs starben schon als Babys oder Kleinkinder.

      So fing es mit mir an

      Die Fraas, mein Sarg war schon bestellt

      Ob ich im Haus der Großeltern Kopp in Perbál geboren wurde oder in der Mietwohnung, die meine Mutter mit meinem Bruder Lorenz 1942 bewohnte, weiß ich nicht. Gehört habe ich, dass die beiden bei einem Bäcker im ersten Stock wohnten, und dass meine Mutter mich nicht stillen konnte, weil sie eine Brustentzündung hatte. Mein Bruder wurde elf Monate vor mir geboren. Ich wurde von einer Amme gestillt, der „Gärrä Franzi“. Sie hatte ein Kind von dem jüngeren Bruder meines Vaters, Franz, der in Krieg umgekommen ist. Das Kind war mein Cousin Wentzel Ferenc, der leider schon gestorben ist.

      Wie fast alle Kleinkinder in dieser Zeit in Perbál hatte ich ein Fieber, die „Fraas“, das mit Magenkrämpfen, Durchfall und völliger Entkräftung verlief. Man hatte beim Tischler bereits einen kleinen Sarg für mich bestellt. Dann wurde aber doch ein letzter Versuch unternommen, mein Leben zu retten. Die Krankheit wurde besprochen. Nach der Schilderung meines Vaters verlief das wie folgt: Einige alte Weiber waren im Stall zusammengekommen. Sie legten einen Lappen auf den Boden und pinkelten der Reihe nach darauf. Dabei murmelten sie finstere Worte und dumpfe Beschwörungen, vermutlich um den Geist der Krankheit damit zu beeindrucken. Sie bildeten einen Kreis um den Lappen, nahmen sich an den Händen und brummelten gemeinsam eine magische Litanei. Dann nahm eine den Lappen vom Boden auf und rieb meinen kleinen Körper damit ab, wozu wiederum Beschwörungen gemurmelt wurden. Ich habe fürchterlich geschrien und gestunken, sagte mir mein Vater. Als er es nicht mehr aushalten konnte, habe er mich, nackt, wie ich war, hinausgetragen in die kalte Winterluft. Dadurch sei ich gesund geworden. Die Weiber werden den Erfolg wohl auf ihre Bemühungen zurückgeführt haben. Ursache und Wirkung bleiben in diesem Fall wohl ungeklärt, wie so oft in unserem Leben.

      Ich