Über seine Kindheit Jugend weiß ich nicht viel mehr ,als mir seine Kinder, unsere Eltern, Tanten und Onkel, erzählt haben: Seine Eltern waren arme Kleinbauern, und so verbrachte er seine Kindheit wie die meisten Kinder in diesen Verhältnissen. Sie wuchsen neben den Erwachsenen auf, ohne dass ihnen besondere Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre. Die Kindersterblichkeit war hoch. Regelmäßig brachten die Mütter neue Kinder zur Welt, von denen im Allgemeinen nicht mehr als 50 % überlebten.
Ohrfeigen für den Lehrer
Er besuchte die vierklassige Dorfschule, hauptsächlich im Winter. Im Sommer mussten die Kinder der Kleinbauern auf den Feldern und auf dem Hof helfen, v. a. während der Ernte. Dazu hat er Folgendes erzählt: Als ihn sein Vater wieder einmal nicht zur Schule gehen ließ, weil er den Eltern helfen musste, habe ihn der Lehrer deswegen verdroschen. Am anderen Tag sei sein Vater in die Klasse gekommen, um seinen Sohn erneut zu holen. Es kam zu einem heftigen Wortwechsel (Schulpflicht etc.), in dessen Verlauf sein Vater dem Lehrer ein paar „Watschen“ gegeben und seinen Sohn wieder mitgenommen habe. Danach habe es über diesen Punkt keine Differenzen mehr gegeben. Trotz dieser auf den deutschen Dörfern bei Budapest üblichen, nur lückenhaften Schulbildung konnte der Opa lesen, schreiben und rechnen. Er war ein guter Rechner. Das kam ihm bei seinem späteren Kleinhandel sehr zugute.
Bevor er zur Armee eingezogen wurde, arbeitete er als Knecht bei reicheren Bauern oder als Fuhrknecht /Tagelöhner bei einem Händler und half zu Hause den Eltern in der Landwirtschaft. Mit 18 Jahren wurde er zum ungarischen Militär eingezogen, zur Infanterie. Über seinen Militärdienst hat der Opa nicht viel gesprochen. Über seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg auch nur wenig. Er war wohl bei der Infanterie eingesetzt. Nach dem Militärdienst blieb er noch drei Jahre ledig. 1912, am 6. Februar, heiratete er meine Großmutter Maria Payer, genannt Mierl. Für uns Kinder war sie die „Kopp-Ahl“. Sie bekam insgesamt zwölf Kinder, sechs davon erreichten das Erwachsenenalter. Die übrigen starben schon als Kinder. Der älteste Sohn, unser „Hans-Vetter“ kam am 20. Juni 1913 zur Welt, unsere Mutter, Kopp Rosina, genannt „Rosel“, am 30. Mai 1918. Da war unser Opa noch im Krieg.
Im Ersten Weltkrieg
Im Herbst 1917 war er zuletzt „auf Urlaub“ gewesen. Er wurde am 15. Januar 1915 eingezogen und musste in Russland, in Rumänien (Kirlibaba) und in der Bukowina kämpfen (Csernovic). Für kurze Zeit geriet er in russische Kriegsgefangenschaft, konnte aber entkommen, sodass er nach dem Krieg wieder nach Perbál zurückkam. Uns hat er erzählt, er sei auch einmal gemeinsam mit den Honvéd-Husaren eingesetzt gewesen. Das war eine berüchtigte Reitertruppe, auf deren Taten mein Großvater zwar einerseits stolz war. Andererseits hat er mit Grauen erlebt, wie die Husaren die russischen Infanteristen geköpft haben. Bei der Erstürmung eines Bahndamms seien sie durch die russischen Reihen hindurch geritten und hätten mit dem blanken Säbel rechts und links die Köpfe der russischen Infanteristen abgehackt. Es sei schrecklich gewesen. Nie wieder wollte er so etwas erleben.
Am Zweiten Weltkrieg musste er aktiv nicht mehr teilnehmen. 1939 war er bereits 51 Jahre alt. Vermutlich wurden er aber im Sommer 1939 zu einer Militärübung an der rumänischen Grenze eingezogen. Damals entstanden zwischen Ungarn und Rumänien großen Spannungen wegen der ungarischen Revisionsansprüche gegen das Nachbarland. Es kam deswegen nicht zum Krieg, weil auf Druck Hitlers und Mussolinis bei den beiden „Wiener Schiedssprüchen“ die Gebietsforderungen Hothy-Ungarns an Rumänien und die Slowakei zum Teil erfüllt wurden.
Auf Wache für die Räterepublik
Er gehörte nach dem Ersten Weltkrieg der „Kleinbauernpartei“ an, ob als Mitglied oder Sympathisant, weiß ich nicht. Als im Frühjahr 1919 in Budapest ein Aufstand zunächst zu einer bürgerlichen Demokratie und anschließend zu einer Räterepublik führte, sympathisierten die Kleinbauern anfangs mit der „Revolution“, weil ihre Anführer die Enteignung der Großgrundbesitzer und die Verteilung des Bodens an Bauern und Landarbeiter versprachen. Mein Großvater bewachte zusammen mit einem Kameraden eine Mühle in der Nähe von Perbál. Das Umland versorgte die Stadt mit Lebensmitteln. Bald schon rückten unter Horthys Führung von der rumänischen Grenze her Konterrevolutionäre gegen Budapest vor. Die Räterepublik war inzwischen schon von französischen Truppen niedergekämpft worden. Opas Kamerad verließ seinen Wachposten, er selbst aber blieb weiterhin vor der Mühle stehen. „Hans, geh nach Hause, die erschießen dich“, redete der Freund auf ihn ein. Aber „der Hans“ wollte nicht aufgeben. Zu seinem Glück kam bald danach seine Frau und holte ihn heim. Damit hatte ihm unsere Oma zum ersten Mal das Leben gerettet.
Kleinhändler
Neben seiner Landwirtschaft begann unser Großvater in den 1920er Jahren, mit landwirtschaftlichen Produkten zu handeln. Er fuhr von Perbál mit dem Pferdewagen nach Budapest auf den Markt. Auf dem Heuplatz (széna ter) verkaufte er Eier, Milch, Butter, Topfen (Quark) und je nach Jahreszeit auch Gemüse und Obst. Als meine Mutter, die Rosel, elf oder 12 Jahre alt war, musste sie sich um den Haushalt kümmern, und die Oma fuhr öfter mit ihrem Mann nach Budapest. Er blieb auf dem Heumarkt, und sie ging bei den reichen Leuten auf dem Rosenhügel (róza domp) an den Türen frische Milch, Butter und Eier verkaufen. Diese Frauen hießen in Budapest damals „Milli Mari“.
Über diese Fahrten, zu denen sie bereits um vier Uhr aufbrachen, um gut zwei Stunden später in Budapest zu sein, erzählte mein Großvater gern kleine Geschichten. Er habe auf dem Kutschbock oft geschlafen und das Pferd habe den Weg allein gefunden. Immer aber, wenn die höchste Anhöhe am Stadtrand von Budapest erreicht war, die Lindenhöhe (hárshegy), hielt das Pferd an und Opa erwachte, um ein Achtel Wein zu trinken. Dann erst ging es hinunter nach Budapest zum Heuplatz.
Dort trafen viele Fuhrwerke zusammen und die Kutscher tranken zusammen, neckten sich und forderten einander zu sportlichen Leistungen heraus. Eine dieser Übungen bestand darin, dass man einen Gulden aufs Pflaster legte, und ein Kutscher musste mit seinem Fuhrwerk einen Kreis so fahren, dass das äußere Hinterrad des Wagens den Gulden überfuhr. Wem das gelang, der konnte er den Gulden behalten. Natürlich gelang das auch dem Kopp Hans, der die Geschichte erzählte.
Opa schöpft Verdacht
Geschichten dieser Art konnte unser Großvater viele erzählen. So sei der Brunnen im Presshaus in einem Sommer immer wieder ausgetrocknet. Er musste daher ständig den Brunnenbauer, einen Nachbarn, rufen, damit er ihn repariere. Er schöpfte bald Verdacht. Der Brunnen versiegte immer am Sonntag, wenn alle in der Kirche waren. Vielleicht war es der Brunnenbauer selbst, der den Brunnen zum Versiegen brachte, um durch vermehrte Reparaturen mehr zu verdienen.
Unser Opa beobachtete an einen Sonntagmorgen, als die anderen zur Kirche gegangen waren, wie sich der Brunnenbauer (Pirtják hieß er) ins Presshaus schlich und in den Brunnen hinunterstieg. Er eilte zum Brunnen, hob einen dicken Stein über den Brunnenrand und rief den Nachbarn an. Er solle sofort zugeben. dass er den Brunnen ständig verschließe, um ihn reparieren zu können. Täte er das nicht, lasse er den schweren Stein auf ihn herunterfallen. Nach kurzem Leugnen gab der Übeltäter auf und bekannte seine Schuld. Dem Opa war das aber nicht genug. Er verlangte dem Brunnenbauer ab, den Brunnen künftig so oft kostenlos zu reparieren, wie er ihn zuvor beschädigt hatte. So geschah es dann auch.
Eine Geschichte, bei der aber nicht er der „Held“ war, sondern der Feldhüter, ist folgende: Unsere Oma war mit ihren Kindern auf dem Feld, um Maiskolben („Guckruzkuijm“) auszubrechen. Sie hatten sich zur Jause unter einem Baum am Feldrand niedergesetzt, und auch der Feldhüter war mit seiner Flinte dazugekommen. Im Maisfeld hörten sie etwas später ein Knacken und Rumoren und bald darauf kam ein großer Bär heraus. Erschreckt sprangen alle auf und liefen ein Stück weg, auch der Feldhüter. Er hatte vor Schreck sogar seine an den Baum gelehnte Flinte zurückgelassen. Der Bär interessierte sich nicht für die Menschen, wohl aber für ihr Essen. Und so mussten sie aus einiger Entfernung zusehen, wie der Bär ihre Jausen verzehrte und sich dann, als er alles aufgefressen hatte, in aller Ruhe wieder davonmachte. Wenn mein Großvater diese Geschichte erzählte, schmunzelte er, und seine Augen leuchteten verschmitzt. Das bedeutete: Wenn er bei dieser Jause dabei gewesen wäre, hätte er den Bären verjagt, aber der versoffene Feldhüter, dieser Feigling … Der Feldhüter,