Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen. József Wieszt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: József Wieszt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991310266
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Ich habe das Haus der Kopp-Großeltern in Perbál mehrfach fotografiert. Nach unserer Vertreibung bewohnte es eine slowakische Familie. Seit 2011 ist es abgerissen. Von ca. 1990 an haben mein Cousin Johann Kopp und ich den Versuch gemacht, dieses Haus zurückzukaufen. Der damalige Bewohner (vormals Elektriker, dann Schrottverwerter und schließlich nur noch Trunkenbold) lebte wie auf einem Schrottplatz, zuletzt gar nicht mehr in dem Haus, sondern nur noch in der Sommerküche. Die war klein, da konnte er sich an den Wänden abstützen, und sie war auch leichter heizen. Die Leute brachten ihm defekte Elektrogeräte, die er reparieren sollte. Je länger er trank, desto weniger reparierte er. Schließlich lag alles nur noch auf dem Hof herum. Er versuchte immer, uns zu verjagen, wenn wir uns das Haus von der Straße aus ansahen. Ein räudiger Köter kläffte uns pausenlos an. Ferenc rief ein paar Mal den Namen des Besitzers. Nach einer geraumen Zeit ging die Tür des Nebengebäudes (Sommerküche) auf, und ein unrasierter, struppiger Mann kam heraus. Verschlafen fragte er auf Ungarisch: „Was wollt ihr?“ Ferenc fragte ihn höflich, ob wir uns das Haus einmal ansehen könnten. „Es war das Haus unserer Großeltern, und wir würden es eventuell kaufen wollen.“ Feindselig knurrte er uns an: „So viel Geld habt ihr nicht, dass ihr dieses Haus kaufen könnt.“ Dann verschwand er wieder in der Sommerküche. Der Hund hatte sich inzwischen beruhigt.

      Foto vom 9. April 1992

      Hinter uns hörten wir plötzlich ein Geschrei. Wir drehten uns um und sahen ein altes Weiblein am Zaun des gegenüberliegenden Hauses. Sie beschimpfte uns lautstark und drohte mit ihrem Krückstock. „Was will sie?“, fragten wir Ferenc. „Sie ist die Mutter von dem Burschen und hat Angst, dass wir ihnen das Haus wegnehmen wollen. Lass uns gehen. Heute hat das keinen Sinn. Wir können es nach seinem Tod bei der Schwester versuchen.“ „Wird er bald sterben?“ „Es kann nicht mehr lange dauern, er säuft sich zu Tode.“

      Wenn man ins Haus von der Längsseite hereinkam, stand man in einer Art Kombination aus Flur und Küche (Kuchl). Links war die vordere Stube (fäederi Stumm). Sie hatte ein Fenster und war die „gute Stube“, die nur bei besonderen Gelegenheiten benutzt wurde. Rechts war die hintere Stube, (die hinderi Stumm), das Schlafzimmer. Es hatte ein Fenster zum Hof. In allen Räumen war ein gestampfter Lehmfußboden. Über den Betten der Schlafstube hingen Heiligenbilder mit vergoldeten Rahmen (die „heilige Familie“, „Jesus mit dem blutenden Herzen“, „Maria mit einem flammenden Herz“). Als ich mit der Slowakin die Räume besichtigte, sagte ich: „Ach da hängen ja noch die Bilder meiner Großeltern.“ „Oder meiner“, antwortete sie. Als ich auf den alten Weinstock vor dem Haus hinwies, den meines Großvaters, antwortete sie ebenfalls: „Oder meines Großvaters.“

      Wie oben erwähnt, kaufte unser Großvater von seinen Ersparnissen zusätzliche Grundstücke. In die Modernisierung der Produktion investierte er, soweit ich weiß, nicht. Er kaufte lieber weitere Grundstücke. Ein Grundstückszukauf von einem Perbáler Slowaken während des Zweiten Weltkrieges wurde ihm schließlich zum Verhängnis. Unsere Tante Resi hat es uns wie folgt erzählt:

      Der Enkelsohn eines Slowaken, ein junger Mann, versuchte, unseren Großvater vom Kauf abzuhalten, weil sein Großvater das Familiengut verkaufe, um den Erlös in Schnaps umzusetzen. Mein Großvater solle doch nicht dazu beitragen, dass seine Familie ins Elend komme. Da der Kauf aber schon vor dem Notar beurkundet werden sollte und mein Großvater einen anständigen Preis geboten hatte, sah er keinen Grund, den Acker nicht zu kaufen. Er hatte dabei nicht das Gefühl, etwas Schlechtes zu tun. Diesen Kauf werde er noch bereuen, drohte ihm der junge Mann.

      Als der Krieg in Ungarn sich schon seinem Ende näherte und die deutsche Wehrmacht und die SS zusammen mit der Regierung ungarischer Nazis (Pfeilkreuzler) von den Russen aus Ungarn vertrieben wurden, bereitete sich für die deutschen Dörfern in Ungarn schon die kommende Katastrophe vor. Die Abrechnung mit „den deutschen Nazis“ – sprich mit der deutschen Minderheit in Ungarn, deren Enteignung und Vertreibung bereits 1944 von dem kommunistischen Politiker Imre Nagy gefordert worden war – konnte beginnen. So geschah es auch in Perbál. Schon sehr bald nach dem Einmarsch der Russen wurden die künftigen Opfer ausgesucht.

      Nazis oder solche Menschen, die als Nazis denunziert wurden, kamen in ungarische Lager und mussten dort schwerste körperliche Arbeiten leisten. Das vordergründige Auswahlkriterium dafür war die Mitgliedschaft im „Volksbund der Deutschen in Ungarn“, kurz „Volksbund“, der als faschistische Organisation eingestuft wurde.

      Mein Großvater war nie Mitglied im Volksbund. Dazu war er viel zu vorsichtig. Er hat unsere Großmutter ausgeschimpft, weil sie mit ihren halbwüchsigen Töchtern zu den Liederabenden der „Deutschen Jugend“ (Jugendverband des Volksbundes) gegangen ist, weil „dort doch so schöne Lieder gesungen wurden“. Das genügte aber, um meinen Großvater als Nazi zu denunzieren. Dass er keiner war, davon konnte ich mich während seines langen Lebens – er wurde 90 Jahre alt – überzeugen.

      Er wurde also zur Gemeinde gerufen und musste zu dem Nazivorwurf Stellung nehmen. In der Kommission, die das Verhör durchführte, saß auch jener junge Slowake, von dessen Großvater unser Opa das besagte Grundstück gekauft hatte. Der junge Mann, der sich als Antifaschist gebärdete und inzwischen vielleicht schon der KP Ungarns beigetreten war, hielt während des Verhörs einen Bleistift in der Hand, den er am Ende deutlich hörbar auf den Tisch fallen ließ. Da wusste unser Großvater, dass er ins Lager musste.

      Zuvor schon wäre er beinahe von betrunkenen russischen Soldaten umgebracht worden. Als die Sowjetarmee in Perbál einmarschierte, begannen sie, zu plündern und die Frauen zu vergewaltigen. Für drei Tage war ihnen das erlaubt. Die etwa 16 und 17 Jahre alten Töchter meiner Großeltern (Maria und Resi) wurden daher in einem Strohschober hinten auf dem Hof versteckt. Bald klopften zwei Soldaten mit Gewehrkolben an die Haustür. Mein Großvater öffnete die Tür einen Spalt, behielt die Hand aber an der Türklinke. Die Frauen im Haus sollten zum Stab kommen, Kartoffeln schälen. Mein Opa sagte: „Hier sind keine Frauen.“ Nun wollte sich der Soldat mit Gewalt Zutritt verschaffen und schlug mit dem Gewehrkolben auf seine Hand ein. Er ließ aber nicht los.

      Inzwischen hatte der zweite Soldat unseren großen schwarzen Hirtenhund Zigán (Zigeuner) erschossen. Als mein Großvater sie weiterhin nicht einließ, drohte der Soldat, ihn zu erschießen. Sein Kumpan zog ihn aber fort. Vielleicht erschien ihm ein Mord doch als ein zu hoher Preis. Vielleicht war es auch nur deshalb, weil sie sich in anderen Häusern leichtere Beute versprachen. Wenige Zeit später kam ein russischer Offizier in unser Haus, der schon vorher bei uns gewesen war. Er versprach Abhilfe, und fortan blieb die Familie von Übergriffen verschont.

      Als die Russen kamen, hatte dieser Offizier mit zwei Frauen in der vorderen Stube geschlafen, berichtete unsere Tante Maria. Sie und ihre Schwester hätten danach eine Schürze voll Läuse gesammelt. An diesen Offizier habe ich auch eine Erinnerung. Bei seinem erneuten Besuch in unserem Haus war, krochen mein Bruder und ich unter den Tisch in der vorderen Stube. Der Besucher knallte einen kleinen Sack vor dem Tisch auf den Boden. Wir Kinder begannen sofort, nachzuschauen, was da drin war. Es war ein uns bis dahin unbekannter, brauner Zucker. Faustgroße Stücke davon waren durch eine Kordel miteinander verbunden. In Deutschland erfuhr ich später, dass man ihn Kandiszucker nannte. Dieser junge Offizier hat trotz der Läuse die Ehre der Roten Armee in unserer Familie für immer gerettet. Er wurde stets als das Beispiel eines „guten Russen“ angeführt, der von seinen Eltern und Geschwistern in Russland erzählte und uns auch Fotos seiner Familie gezeigt hat.

      Bis zur Vertreibung im April 1946 lag für meinen Großvater noch eine höchst gefährliche Zeit vor ihm. Er wurde, wie oben erwähnt, in das Internierungslager Vác gebracht und musste in einem Steinbruch und beim Holzfällen schwerste Arbeiten verrichten. Zu essen gab es für die Internierten so gut wie nichts. Unsere Großmutter machte sich also auf den langen Weg nach Vác und versuchte, ihrem Mann Lebensmittel zu bringen. Sie wurde zunächst nicht eingelassen. Ihr Paket konnte sie abgeben. Erneut versuchte sie es – mit dem gleichen Ergebnis. Sein Eintreten für die „Sache des Volkes“