Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen. József Wieszt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: József Wieszt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991310266
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nützen uns unsere vergangenen Taten denn schon, wenn wir einmal richtig in der Klemme sitzen?

      Mein Onkel Hans, ein Opportunist bis an sein Lebensende, der älteste Sohn meines Großvaters, und sein jüngerer Bruder Johann, waren inzwischen der Kommunistischen Partei Ungarns (MKP) beigetreten, in der Annahme, durch diesen Schritt etwas für ihren Vater tun zu können. Und das war auch so. Hans begleitete seine Mutter bei ihren kommenden Fahrten nach Vác und wies sich als ein „Genosse“ aus. Auf diese Weise bekamen die beiden ihren Mann und Vater endlich zu Gesicht. Aber der da vor ihnen stand, war nur noch ein fernes Abbild dessen, den sie kannten. Halb totgeschlagen und abgemagert bis auf die Knochen von schwerer Waldarbeit stand dieser aufrechte Mann vor ihnen, ohne ein Wort der Klage, ohne Hass und Vorurteil. Er kannte das Leben und die Welt. Mit seinem Ausweis konnte Hans das Lagertor für unsre Großmutter öffnen. Ihr Mann hatte jetzt wenigstens etwas zu essen. Von den ersten Paketen hatte ihn keines erreicht. Die Wachmannschaften hungerten auch. Durch ihren unermüdlichen Einsatz rettete unsere Oma ihrem Hans zum zweiten Mal das Leben. Viele andere Insassen kamen durch Überanstrengung, Schläge, Krankheiten und Unfälle um oder verhungerten einfach.

      Völlig abgemagert und krank wurde unser Großvater im Winter 1945/46 aus dem Lager entlassen. Ob er sich an seine Prophezeiung erinnerte, dass nach dem verlorenen Krieg die Ungarndeutschen aus ihrer Heimat vertrieben werden würden? Ich weiß es nicht. Kaum war unser Opa wieder zu Hause, wurden die Gerüchte von ihrer bevorstehenden Vertreibung lauter. Die Aussicht, dass er sich in seinem Haus bei guter Ernährung und Pflege erholen könnte, verschlechterte sich täglich. Am 2. April 1946 war es für ihn und seine Familie dann so weit. Wir wurden aus unserer Heimat vertrieben.

      Durch die schwere Arbeit im Lager hatte sich unser Großvater einen Leistenbruch zugezogen, der damals nicht operiert werden konnte. In Deutschland waren die Verhältnisse zunächst auch nicht so, dass eine Operation hätte erfolgen können. Als sich die Situation dann etwas verbesserte, riet der Arzt von einer Operation ab, weil der Bruch zu groß war und ein Eingriff zu gefährlich gewesen wäre. So musste der geplagte Mann die letzten 32 Jahre seines Lebens mit einem offenen Leistenbruch leben, durch den bei jeder Anstrengung ein Stück Darm aus der Bauchhöhle herausgedrückt wurde. Als ich es einmal sah, hing diese „Darmwurst“ etwa 15 cm heraus. Der Opa stopfte sie dann wieder in den Bauch hinein. Auch als er ein Bruchband bekam, änderte sich die Situation für ihn nicht grundlegend. Die Bauchdecke blieb offen. Vermutlich war die Öffnung an den Rändern vernarbt, anders hätte eine ständige Infektionsgefahr bestanden. Jede Anstrengung blieb ihm aber untersagt. So kommt es, dass ich meinen Großvater in Deutschland eigentlich nie bei einer schweren körperlichen Arbeit sah, während die anderen kräftig anpacken mussten.

      Die Kopp-Großeltern 1966 auf dem Weg nach Battenberg, zwanzig Jahre nach der Vertreibung aus Ungarn.

      Im Gegensatz zu unserer Oma ging er nicht nach Battenberg zur Kirche. Wann immer sie konnte, war sie sonntags dort. Das ärgerte ihn. Schließlich kam er auf den dummen Gedanken, sie könne ein Verhältnis mit dem dortigen Kirchendiener haben. Alter schützt bekanntlich nicht vor Torheit.

      Zu seinem 90. Geburtstag kamen wir alle zusammen: Kinder, Enkelkinder, in der Nähe wohnende Verwandte und Bekannte. Opa schwach und blass im Bett. Sein markanter Bart war gestutzt. Zur Gratulation kamen auch Einheimische. Eine Blaskapelle spielte vor seinem offenen Fenster. „Jetz spüt a nau die Musi aof“, sagte er mit einem angedeuteten Lächeln („Jetzt spielt auch noch die Musik auf“). Irgendjemand im Zimmer drängte ihn, sich doch am Fenster zu zeigen. Ob das gut sei, fragte ich, es sei doch schon November. Aber da halfen willige Arme und Hände dem alten Mann schon aus dem Bett. Nur wenige Minuten stand er am Fenster. Es wurde ihm zu kalt. Schnell brachte man ihn wieder zurück ins Bett. Ich machte noch ein Foto von ihm und ging hinunter zur Feier. Dort ging es schon hoch her. Die Musikanten draußen erhielten einen Schnaps. Drinnen trank man reichlich vom selbst gemachten Wein seiner Söhne. „Auf die Gesundheit vom Opa, möge er noch lange leben!“

      Eine Woche später kam ein Anruf. Der Opa war tot, gestorben an eine Lungenentzündung. Es war schon Nachmittag. Ich rannte zu meinem Auto, fuhr in die Innenstadt und kaufte mir einen schwarzen Anzug. Die Ärmel waren zu lang. Sie wollten sie umnähen „Bis wann?“ „Frühestens morgen bis zehn.“ Das war in Ordnung. Die Beerdigung war um zwei Uhr nachmittags. Um zehn Uhr war der Anzug nicht fertig. Ich wartete und wartete. Die Zeit flog nur so dahin. Gegen halb elf hatte ich ihn. Rein ins Auto, auf die Autobahn und Vollgas. Auf der Raststätte in Hildesheim hielt ich kurz an. Der Frühstückskaffee musste raus. Draußen fragte eine Tramperin: „Kannst du mich bis Göttingen mitnehmen?“ „Steig ein, ich hab’s eilig.“ Mit 175 Sachen jagte ich gen Süden (VW Passat). Auf dem Rastplatz in Göttingen stieg sie aus: „So schnell bin ich noch nie gefahren.“ Ich raste weiter. Im Haus meiner Eltern traf ich meine Schwester an. Sie war noch nicht fertig angezogen. Es dauerte. Als wir endlich im Trauerhaus in Laisa ankamen, wurde der geschlossene Sarg gerade die Treppe heruntergetragen. „So ein Mist, ich wollte doch noch ein letztes Foto vom Opa machen.“ „Das macht nichts“, sagte meine Tante Resi, „er hat genauso ausgeschaut wie letzte Woche.“ Dann senkte man ihn ins Grab zu seiner Maria. „Machs gut, alter Gauner! Ich trauere um dich. Aber so einen Abschied bringst nur du fertig.“

      Die Oma, geb. Maria Payer

      Aus ihrem Leben

      Die Oma, „die Ahl“, wie ich sie kennengelernt habe, war eine Stille und Liebe. Ich habe keine Szene in Erinnerung, in der sie böse oder laut war. Mir schien sie immer der genaue Gegensatz zu ihrer Tochter, unserer Mutter, zu sein. Es fällt mir schwer, meine erste Erinnerung an sie ausfindig zu machen. Als Person war sie für mich nicht klar umrissen. Sie war für mich eher so etwas wie ein warmes Gefühl. Sie vermittelte eine Atmosphäre des „zu Hause Seins“. Ihr Gesicht war rund und faltig, freundliche Augen blickten daraus hervor. Klein war sie, rund, ständig verborgen unter ihrer schwarzen Tracht. Dazu gehörten auf dem Kopf ein Schopf, ein Umhängtuch, und – je nach Witterung – drei bis fünf Unterröcke und Röcke, die sie übereinander trug. Unterhosen gehörten offenbar nicht zu ihrer Bekleidung, zumindest nicht im Sommer. Als wir einmal die Straße nach Laisa gemeinsam entlanggingen, trat sie an den Rand, hob den Hintern unter dem Rock an, spreizte die Beine – und dann hörten wir es plätschern.

      Unsere Mutter erzählte, dass sie nicht gut kochen konnte. Ich habe keine Erinnerungen an Omas Küche. Unsere Mutter dagegen kochte gut. Über ihre Mutter erzählte ihre Tochter, dass die Oma sie zur Arbeit getrieben habe. (Ich habe das oben erwähnt.) Schon als Zwölfjährige habe sie den Haushalt führen und die kleineren Kinder beaufsichtigen müssen, weil die Oma mit dem Opa nach Budapest auf den Markt fuhr und Bestellungen bei den reichen Leuten auf dem Rosenhügel einholte und austrug. Meistens handelte es sich um frische Eier, Milch, Sahne – „Ouverst“ (Schlagobers).

      Wenn etwas nicht so gegangen war, wie ihre Mutter es erwartet hatte, habe sie Schläge bekommen. Dabei sei die Oma nicht wählerisch gewesen. Wenn sie nichts anderes zur Hand gehabt hätte, habe sie auch mit dem Kochtopf zugeschlagen. Dabei hat sie sicher auch Schläge abbekommen, die eigentlich ihrem Bruder, dem ältesten Sohn Hans gegolten haben, den die Oma aber nicht mehr verhauen konnte, weil er schon siebzehn war. Er scheute die Arbeit und trank auch gern Wein, in diesem Alter schon. Ihren Mann, den Opa, liebte und verehrte unsere Oma. Wenn er etwas sagte, war das ein Gesetz. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Oma ihm jemals widersprochen hätte. Da er gelegentlich jähzornig wurde, versuchte sie, ihn milder zu stimmen.

      Auch auf unsere Mutter suchte sie zu besänftigen, wenn sie aus Überforderung schrie und uns Kinder schlug. „Rousl, sei san doch nou Kinder!“ („Rosl, sie sind doch noch Kinder!“) Auch unsere Tante Maria mischte sich ein, wenn unsere Mutter wieder einmal schimpft und lärmte, weil mein Bruder und ich es allzu toll getrieben hatten: „Halgas!“, sagte sie auf Ungarisch, etwa: „Sei doch ruhig!“

      Unsere Großmutter war in das System der Ernährung der Familie mittels