Zukunft möglich machen. Klaus-Dieter Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus-Dieter Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783754958872
Скачать книгу
Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen. Das Vormundschaftsgericht kann insbesondere anordnen, daß das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht wird.“{27}

      Mit dem „Gesetz über die öffentliche Fürsorge für Minderjährige“ vom 11. September 1907 wurden alle Aufgaben und Befugnisse im Bereich des Schutzes von Minderjährigen beim Waisenhauskollegium zusammengefasst. Die Behörde für die Zwangserziehung wurde aufgelöst und die Erziehungs- und Besserungsanstalt Ohlsdorf dem Waisenhauskollegium unterstellt. Mit dem parallel novellierten „Gesetz über die Zwangserziehung Minderjähriger“ wurden die Voraussetzungen und das Verfahren für die Überweisung von Minderjährigen in die „Zwangserziehung“ geregelt. Bei einer weiteren Novelle im Jahr 1910 löste die neu bezeichnete „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ das Waisenhauskollegium ab. Das erste Jugendamt, das sich dem Schutz Minderjähriger widmete und gesetzlich geregelte Eingriffsrechte besaß, war entstanden.

      Johannes Petersen, der erste Beamte an der Spitze dieser Behörde, hatte allen Grund, auf diese Entwicklung stolz zu sein. Im Vorwort seiner bereits erwähnten Abhandlung über die „Hamburgische Öffentliche Jugendfürsorge“ schrieb er:

      „Die Vereinigung der gesamten öffentlichen, d.h. derjenigen Jugendfürsorge, die auf gesetzlichen Vorschriften beruht und mit öffentlichen Mitteln und auf öffentliche Kosten durchgeführt wird, bei einer Behörde ist in Hamburg in besonderem Maße verwirklicht. Zugleich ist der Kreis der Jugendlichen, der dieser öffentlichen Fürsorge teilhaftig wird, hier verhältnismäßig größer, als irgendwo sonst im Deutschen Reich.“{28}

      Petersen reagierte mit seiner Abhandlung auf die zahlreichen Bitten um Auskunft zu den Neuerungen in Hamburg auf dem Gebiet der „Öffentlichen Jugendfürsorge“. Wer hätte nach dem schlechten Zeugnis über die Hamburgische Verwaltung im Cholera-Jahr gedacht, dass Hamburg einst als Vorbild dastehen würde?

      An diesem Erfolg hatte der 1862 in Steinbeck bei Hamburg geborene Petersen engagiert gearbeitet. Er studierte Naturwissenschaften und Philosophie und wurde 1884 zum Dr. phil. promoviert. 1887 trat er als Gymnasiallehrer in den Hamburgischen Staatsdienst ein. Ab 1893 engagierte er sich als Pfleger und Bezirksvorsteher im VIII. Hamburger Armenkreis und war im Jahr 1900 gut vorbereitet für das Amt des Direktors des Waisenhauses, auf das er sich erfolgreich beworben hatte. Schwerpunkte seiner Arbeit waren der Ausbau der Säuglingspflege, Erziehungsfragen und die Einführung der Berufsvormundschaft als einem wichtigen Teil im System der öffentlichen Jugendfürsorge. Nur wenige Jahre nach seiner Ernennung zum Direktor der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge starb er im Oktober 1913.{29}

      Er hinterließ seinem Nachfolger, Alexander Heskel, eine für damalige Verhältnisse gut aufgebaute Behörde mit den wesentlichen Instrumentarien zur Erfüllung der Aufgaben in der „öffentlichen Jugendfürsorge“. Der 1864 geborene Heskel studierte klassische Sprachen und Germanistik und schloss sein Studium mit der Promotion ab. Von 1896 bis 1906 arbeitete er als Oberlehrer an einer Hamburger Realschule, danach als Inspektor des höheren Schulwesens, bevor er 1914 Petersens Nachfolge antrat und das Amt als Direktor der Jugendbehörde bis 1923 ausübte.{30}

img3.png

      Zu den Aufgaben der Behörde gehörten die Fürsorge und ggf. Erziehung von Minderjährigen,

       die aus dem Armenwesen in die „öffentliche Waisenpflege“ überwiesen werden.

       deren Erziehung durch die Eltern nicht gesichert ist und die Verwahrlosung durch den Staat im Rahmen der „Zwangserziehung“ abgewendet werden muss (§§ 1666 und 1638 BGB).

       die Straftaten begangen haben und wegen fehlender jugendlicher Einsicht in die Tat nicht verurteilt werden oder wegen ihres Alters strafunmündig sind, aber einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt überwiesen werden (§56 Reichstrafgesetzbuch).

       die sich einer Übertretung gem. § 361 Nrn. 3 bis 8 Reichsstrafgesetzbuch schuldig gemacht haben. Dazu gehörten Landstreicherei, Arbeitsscheu bei Bezug öffentlicher Fürsorge, „gewerbsmäßige Unzucht“ bzw. Prostitution, Bettelei und Wohnungslosigkeit.

       für die der gesetzliche Vertreter die öffentliche Erziehung beantragt hat.

       die von der Polizei in Verwahrung genommen wurden.

      Der Aufgabenkatalog zeigt deutlich die Wurzeln der heutigen Jugendhilfe. Die Anlässe für Eingriffe der staatlichen Jugendbehörde sind Vernachlässigung, Misshandlung und sonstige Gefährdung des Kindeswohls, wobei dieser Begriff noch nicht entwickelt war. Und auch der Delinquenz junger Menschen sollte grundsätzlich in einem jugendgemäßen Sinn mit erzieherischen Maßnahmen begegnet werden. Ein eigenes Jugendstrafrecht gab es noch nicht, wohl aber das Instrument der Vermeidung von Haft.

      Die Behörde hatte darüber hinaus die Aufgabe, die öffentliche Erziehung durchzuführen. Hierzu konnte sie sich dreier Einrichtungen, die damals noch als „Anstalten“ bezeichnet wurden, bedienen. In geeigneten Fällen sollte aber dem traditionellen Instrument der Pflegefamilie und der Lehr- oder Dienststelle der Vorrang eingeräumt werden. Letztere waren vor allem für ältere, schulentlassene junge Menschen vorgesehen, um sie in eine berufliche Tätigkeit mit Wohnmöglichkeit zu überführen. Die Behörde hatte über diese Lebensorte der Minderjährigen die Aufsicht zu führen, um das Wohlergehen der Minderjährigen in den Familien und bei Lehrherren und Arbeitgebern zu überwachen. Es war eine Erfahrung, dass diese Stellen gerne das „Kostgeld“ nahmen, die „Privatkostkinder“ dann aber vernachlässigten oder ausbeuteten. Die Behörde hatte bereits in der Vergangenheit ein Netz ehrenamtlicher Waisenkreise und -bezirke über das Stadtgebiet geworfen. Sogenannte „Vertrauensmänner“{31} prüften die Pflegstellen vor und während der Aufnahme von Kindern. Die heutige, jugendamtliche Aufgabe des „Pflegekinderwesens“ mit der Überprüfung der Eignung von Pflegestellen und der Überwachung des Wohlergehens der Kinder, war damit in jener Zeit bereits ausgeprägt.

      Mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches waren auch familienrechtliche Bestimmungen in Kraft getreten, die das Sorgerecht und die Unterhaltspflicht des Kindesvaters regelten und auch den Fall, dass dieser das Sorgerecht und die Sorgepflicht nicht oder nicht angemessen ausübte oder als Sorgerechtsinhaber ausfiel. In diesen Fällen war das Sorgerecht an einen Vormund zu übertragen. Der Behörde oblag die Ausübung der Vormundschaft über die Mündel, die nicht in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt lebten, über Mündel in der sogenannten „vollständigen Fürsorge“ in Anstalten oder bei Pflegefamilien und über uneheliche Kinder, die nicht in Anstalten lebten. Damit war die vom Staat wahrgenommene Berufsvormundschaft neben der Vormundschaft durch Privatpersonen institutionalisiert worden.

      Der neuen Behörde wurden auch die Aufgaben des Gemeindewaisenrats gemäß § 1850 BGB zugewiesen. Danach hatte der Gemeindewaisenrat „in Unterstützung des Vormundschaftsgerichts darüber zu wachen, daß die Vormünder der sich in seinem Bezirk aufhaltenden Mündel für die Person der Mündel, insbesondere für ihre Erziehung und ihre körperliche Pflege, pflichtmäßig Sorge tragen. Er hat dem Vormundschaftsgerichte Mängel und Pflichtwidrigkeiten, die er in dieser Hinsicht wahrnimmt, anzuzeigen und auf Erfordern über das persönliche Ergehen und das Verhalten eines Mündels Auskunft zu ertheilen.“{32} Zu den Aufgaben des Gemeindewaisenrates gehörte gem. § 1675 BGB, dem Vormundschaftsgericht von allen Fällen drohender und eingetretener Verwahrlosung, die Entziehung der elterlichen Rechte oder Zwangserziehung zur Folge haben können, Mitteilung zu machen.“{33} Diese Aufgaben sind bis heute im Kern solche eines Jugendamtes.

img3.png

      Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Einrichtungen der „vollständigen Fürsorge“, also die Erziehungsanstalten neben der Familienpflege. Hierzu gehörten das Waisenhaus in der Averhoffstraße, die Erziehungsanstalt für Knaben in Ohlsdorf und die 1911 in Betrieb genommene Erziehungsanstalt für Mädchen in Alsterdorf, die als die