Obwohl mit den Reformen nach der französischen Besatzungszeit Sträflinge von den Armen im Werk- und Armenhaus getrennt wurden, unterstand es dennoch insgesamt der Gefängnisverwaltung. Erst durch Gesetz vom 5. April 1893 ist die Verwaltung des Werk- und Armenhauses in die Zuständigkeit des Armenkollegiums übergegangen. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurden in diesen Anstalten Kinder und Jugendliche nicht von Erwachsenen getrennt. 1828 wurde die „Strafklasse des Werk- und Armenhauses“ für verwahrloste Jugendliche gegründet. In dem mittlerweile vom Armenhaus getrennten Zuchthaus bestand für straffällig gewordenen Kinder eine „Strafklasse des Zuchthauses“. Nach einer Diskussion zur Beibehaltung dieser Institution entschied das Gefängniskollegium, die Strafklasse weiterzuführen, allerdings nicht im Zuchthaus, sondern im Werk- und Armenhaus. Die Erwägungen hierzu waren für die damalige Zeit recht modern. Man hatte erkannt, dass man straffällig gewordene Jugendliche nicht zusammen mit Erwachsenen im Zuchthaus einsperren könne, „dass die verwilderte Jugend nicht bestraft, sondern erzogen werden müsse.“{17} Neben der Unterbringung in der Strafklasse sollten Kinder auch dem von dem Theologen und Lehrer Johann Hinrich Wichern 1833 gegründeten „Rauhen Haus“ zur Erziehung zugeführt werden. Inspiriert von seinen Einblicken in die Lebensverhältnisse armer und sozial gefährdeter Familien hatte er die Idee einer „Rettungsanstalt“ für Kinder entwickelt, die von Verwahrlosung bedroht waren.
Die Strafklasse im Werk- und Armenhaus wurde im Oktober 1883 abgeschafft. Ihre Aufgabe übernahm die in Ohlsdorf neu errichtete Erziehungs- und Besserungsanstalt für schulpflichtige Jungen und Mädchen, die 1887 der neu eingerichteten Behörde für Zwangserziehung unterstellt wurde. Die nicht mehr schulpflichtigen Minderjährigen verblieben im Armenhaus, das noch bis 1893 der Gefängnisdeputation unterstand, bevor es in die Verwaltung des Armenkollegiums überging. Erst 1911 wurde eine Einrichtung für gefährdete, schulentlassene Mädchen errichtet: das Heim in der Feuerbergstraße.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es kein staatlich organisiertes, allgemeines Schulwesen und keine Schulpflicht. Die Armenanstalten organisierten in Hamburg für ihre Klientel eine Beschulung. Dort zeigte sich eine „grobe Zuchtlosigkeit einzelner Schüler, die wegen Störung des Unterrichts entlassen wurden.“{18} Da die Beschulung aber zum Kern der Arbeit der Armenanstalten gehörte, wurde 1833 die Strafschule gegründet. Dort wurden die Kinder „nicht nur während der Schulzeit, sondern ganz, Tag und Nacht, (…) aufgenommen.“{19} Mit der Einführung des Volksschulwesens ab 1871 unterstellte man die Strafschule der Oberschulbehörde und schuf damit ein Instrument, um auf das Schulschwänzen zu reagieren. Die Kontrollausschüsse der Volksschulen veranlassten bei Bedarf die Überweisung eines Kindes in die Strafschule für bis zu 8 Wochen. Diese Einrichtung wurde aber 1905 wieder aufgegeben. Die Rechtsgrundlage für die Einweisung war mittlerweile zweifelhaft und die Praxis als nicht mehr zeitgemäß kritisiert geworden. Ein weiterer Grund war die bevorstehende Neuordnung der gesetzlichen Grundlage für die sogenannte „Zwangserziehung“ in Hamburg.
Die rasante wirtschaftliche Entwicklung im ausgehenden 19. Jahrhundert ließ den Bedarf an Arbeitern steigen und die Zahl der Bewohner in den Städten schnell wachsen. In Hamburg stieg die Zahl der Einwohner von 1821 mit knapp unter 200 Tausend bis zum Jahr 1900 auf rund eine Million an, wobei damit auch eine Ausweitung der Wohngebiete von der engen Innenstadt auf die äußere Stadt und die damaligen Vororte verbunden war. Der Wohnungsbau konnte mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten und so drängten sich die Menschen in den Wohnungen und eng bebauten Stadteilen, die bisweilen als überbevölkert galten. Dies waren vor allem die Quartiere in der Nähe des Hafens, denn er bot vielen Facharbeitern und Tagelöhner Arbeit. 1892 waren 38% der werktätigen Bevölkerung im Sektor Handel und Verkehr beschäftigt und damit im Bereich des Hafens und der Flussschiffahrt.{20}
In diesem Prozess der Stadtentwicklung vollzog sich auch eine Trennung von Arm und Reich: wer es sich leisten konnte, und das hieß: wer der Mittel- oder Oberschicht angehörte, wohnte nicht im Gängeviertel, auf St. Pauli oder in St. Georg, sondern in den äußeren Stadtteilen wie Rotherbaum, Harvestehude oder Hohenfelde.{21}
Das Jahr 1892 hatte erneut gezeigt, wie schlecht die Lebensbedingungen für Arbeiterfamilien in der Stadt waren und wie schnell die Existenzgrundlage einer Familie durch Krankheit und vor allem Arbeitslosigkeit kollabieren konnte. In den Haushalten der Arbeiterfamilien lebten neben den Eltern und ihren fünf und mehr Kindern oft auch weitere Familienangehörige. Die Mieten verschlangen nicht selten 25 bis über 30 Prozent des Familieneinkommens, zu dem die Frauen und Kinder durch Arbeit betrugen, und das dann doch nur zu einer Existenz am Rande der Armut reichte: Hauptnahrungsmittel war Brot, Kleider wurden immer wieder geflickt und alle Kinder teilten sich ein Bett. Mindestens in einem Drittel der ohnehin engen Behausungen wurde auch noch ein „Schlafbursche“, ein lediger, junger Arbeiter, aufgenommen, um über die Runden zu kommen:
„Ein Beispiel für eine solche Familie liefert Ernst Neddermeyer, der für 18 Mark Wochenlohn in einer Gerberei und im Sommer auf dem Lastkahn seines Arbeitgebers als Matrose arbeitete. Er bewohnte Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre in Hamburg eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche, die im Monat 24 Mark kostete, 30% seines Einkommens. In dieser spartanischen Unterkunft ohne Strom, Gas oder ordentliche Toilette hausten nicht nur Neddermeyer mit seiner Frau, sondern auch fünf Kinder sowie ein Untermieter, der mit 2,50 Mark je Woche zum Familieneinkommen beitrug. Die fünf Kinder schliefen zusammen in einem Bett (…). Vier der Kinder waren chronisch krank (…).“{22}
In diese Verhältnisse gelang es Eltern nicht immer, ihrer Fürsorge- und Erziehungspflicht hinreichend zu genügen. Die staatlichen Stellen in Hamburg, die für die junge Generation und ihre Integration in die Gesellschaft verantwortlich waren, konnten den Blick nicht abwenden von vernachlässigten Kindern und auch nicht von schulentlassenen Minderjährigen, die ohne Unterstützung in der Gesellschaft nicht Fuß fassen würden. Sie widmeten sich ab 1892 verstärkt „der Bekämpfung der Verwahrlosung“{23} Minderjähriger, insbesondere auch durch Eingriffe in die Familien durch die sogenannte „Zwangserziehung“. Diese war eine von der Vormundschaftsbehörde angeordnete, staatliche Erziehung in einer Anstalt oder in einer Pflegefamilie. Bereits 1883 ersuchte die Bürgerschaft den Senat, eine gesetzliche Grundlage für diesen Eingriff zu schaffen, wie sie seit 1878 in Preußen bereits bestand. Das erste hamburgische Gesetz zur Zwangserziehung trat 1887 in Kraft. Mit ihm war die Gründung einer besonderen Behörde verbunden, der vormundschaftliche Befugnisse über die ihr zugewiesenen „Zöglinge“ übertragen wurden. Das damals Besondere war, dass in die Zielgruppe nicht nur straffällig gewordene Minderjährige, sondern alle Kinder und Jugendlichen einbezogen wurden, die nach den damaligen Vorstellungen von „Verwahrlosung“ bedroht waren, also auch schulentlassene, ältere Jugendliche. Mit dem Gesetz setzte man zwar vorrangig auf Familienpflege als dem Mittel der Wahl zur Verbesserung der Erziehungsbedingungen, hielt aber auch mit der 1883 gegründeten „Erziehungs- und Besserungsanstalt“ in Ohlsdorf die „Anstaltspflege“ als Möglichkeit vor.
Das Gesetz zur Zwangserziehung nahm auch die über 16 Jahre alten, schulentlassenen Jugendlichen{24} in den Fokus. Damit war der Personenkreis größer gezogen als in Preußen, dessen Zwangserziehungsgesetz von 1878 als Vorbild gedient hatte. Dies hatte zur Folge, dass eine zunehmende Zahl an jungen Menschen in die Zwangserziehung zu nehmen war, so dass bereits 1892 die „Errichtung eines Mädchenhauses“{25} beschlossen wurde. Zu diesem gestiegenen Bedarf in der „Anstaltspflege“ trug allerdings auch bei, dass „das Alter und die sittliche Beschaffenheit“{26} eine Unterbringung in der Familienpflege ausschlossen.
In den Folgejahren wurden die Mängel des Gesetzes offenbar. Mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) im Jahr 1900 mussten einzelne Regelungen des Hamburgischen Zwangserziehungsgesetzes an das neue Reichsrecht, das neue familienrechtliche und vormundschaftsrechtliche Regelungen enthielt, angepasst werden. Eine Überprüfung des Zwangserziehungswesens durch einen Ausschuss der Bürgerschaft kam zu dem Ergebnis, dass die Zuständigkeit für gefährdete Minderjährige zwischen dem Armenhaus, dem Waisenhauskollegium und der Zwangserziehungsbehörde in nicht nachvollziehbarer Weise verteilt war. Künftig sollte es eine Bündelung bei einer in pädagogischen Fragen kompetenten Behörde geben. In diesem Zuge sollte auch den „guten Kindern schlechter Eltern“ durch die Zwangserziehung