Zukunft möglich machen. Klaus-Dieter Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus-Dieter Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783754958872
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Hinsicht gestellt werden und die als Führernachwuchs für Partei, Staat und Wehrmacht ausersehen sind.“{147} Konkret waren dies junge Menschen in den Adolf-Hitler-Schulen, den nationalpolitischen Erziehungsanstalten, den Führer- und Führerinnenschulen der Hitlerjugend und weiteren Einrichtungen dieser Art. „Die Insassen der Fürsorgeerziehungsheime können mit diesen Jugendlichen nicht verglichen werden“{148}, wurde abschließend klargestellt.

      Auch ein Antrag der Direktorin Cornils aus dem Jahr 1940, die Kinder der Warteschule des Mädchenheimes wegen der verstörenden nächtlichen Fliegerangriffe in die Kinderlandverschickung einzubeziehen, wurde mit der gleichen Begründung abgelehnt: die Kinder seien minderwertig und es daher nicht wert, besonders geschützt zu werden.{149}

      Das Heimleben in der Feuerbergstraße hatte sich bis zu den ersten Kriegsjahren auf den Nationalsozialismus eingestellt, wie sich Valeska Dorn erinnert, die von 1939 bis 1942 im Heim leben musste. Dazu gehörte das Antreten in Gruppen auf dem Hof, der Hitlergruß, Strafen im „Bunker“, tägliche Arbeit im Anstaltsbetrieb und die allgemein raue Behandlung, die eben jenen „rassisch Minderwertigen“ zugedacht war. Valeska Dorn erinnerte sich an die Erziehungsdirektorin Cornils als „Oberin“. Das ist bemerkenswert, war dieser Titel doch Ende der 1920er Jahre abgeschafft worden. Er war aber offenbar noch lange Zeit im Alltag gebräuchlich, und passte wohl auch zum Regiment in der Feuerbergstraße.{150}

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      An einem Tag im Oktober 1944 wurde ein behindertes Kind des Kinderkrankenhauses von der chirurgischen Abteilung Rothenburgsort auf die Infektionsabteilung überwiesen. Es war an Scharlach erkrankt. Die Stationsschwester steckte im Laufe des Tages der Assistenzärztin einen Zettel zu. Die Ärztin las die Worte: „Genehmigung für A.H. liegt vor.“ A.H. waren die Initialen des Kindes. Sie besorgte sich aus der Krankenhausapotheke das Medikament Luminal. Zur Abendzeit begab sie sich dann zusammen mit einer Schwester in das Krankenzimmer des Kindes. Die Schwester hielt das Kind fest und die Ärztin spritzte das Barbiturat in tödlicher Dosis in das Gesäß des Kindes. In der Nacht lief das Kind blau an, hatte Schaum vor dem Mund, „nasenflügelte“ und röchelte, bis es still war. Auf dem Totenschein vermerkte die Ärztin pflichtgemäß: „Todesursache Pneumonie“.{151}

      Bereits 1940 war ein Programm zur Aussonderung und physischen Vernichtung von Kindern angelaufen. In einem im Oktober 1939 verfassten, aber auf den 1. September 1939 zurück datierten Schreiben hatte Hitler die Tötung kranker Menschen in den Ermessenspielraum einzelner Ärzte gestellt.{152} Dabei wurde der Begriff des „Gnadentodes“ verwendet. Eine gesetzliche Grundlage zur Euthanasie wurde zwar erwogen, aber aus Geheimhaltungsgründen sogleich wieder verworfen. Damit war nur dieser „Führererlass“ Grundlage für die Tötung von rund 200 Tausend Menschen, Erwachsenen wie Kindern. Das daraufhin anlaufende Euthanasieprogramm wurde von Mitarbeitern der „Kanzlei des Führers“ organisiert. Hierzu wurde der „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ gegründet, der Erlasse zur Durchführung des Programms und insbesondere eine Pflicht zur Meldung von schwer erkrankten Kindern im Alter bis zu drei Jahren herausgab.{153} Ab 1939 waren angeborene Missbildungen zu melden, aber auch „Idiotie sowie Mongolismus“, wodurch ein breiter Spielraum in der Diagnostik eröffnet wurde. Das Meldeverfahren wurde durch Meldeformulare bürokratisch geordnet und in der Folgezeit mehrfach präzisiert. Der Reichsausschuss entschied anhand der Angaben auf den Meldebögen, ob an einem Kind in einer speziellen Anstalt eine „Behandlung“, also eine Tötung, durchgeführt werden durfte. Hierfür wurden die reichsweit etwa 30 „Kinderfachabteilungen“ in besonders ausgesuchten Krankenhäusern gegründet. In Hamburg bestanden im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort und in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn solche Abteilungen.{154} Die Leitenden Ärzte waren in das Programm und die gewünschte Behandlung eingeweiht und auch willig mitzuwirken. In Hamburg waren dies die Ärzte Wilhelm Bayer für Rothenburgsort und Friedrich Knigge für Langenhorn. Die administrative Verantwortung lag beim Gesundheitssenator Ofterdinger, dem Obersenatsrat Struve zur Seite stand. Ausgangspunkt für die Auswahl der in Betracht kommenden Kinder waren die Amtsärzte, die ebenfalls in das Programm eingebunden waren. Für die Amtsärzte und die beiden Kinderfachabteilungen war der Leiter des Gesundheitsamtes Sieveking zuständig.{155} Ab Mitte oder Ende 1940 – das genaue Datum war auch im Strafprozess nach dem Krieg nicht zu klären – begannen die Tötungen im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort, Anfang 1941 ging die Kinderfachabteilung in Langenhorn in Betrieb.{156}

      Viele Kinder befanden sich noch in der Obhut der Eltern und für die Einweisung und Behandlung war deren Einverständnis erforderlich. Die Eltern waren also über die Behandlung aufzuklären, wobei man sie offenbar anlog, dass eine Behandlung durchgeführt werden könne, die aber das Risiko berge, dass das Kind nicht überlebte.{157} Nicht alle Eltern waren einverstanden, verweigerten die Einweisung oder holten ihre Kinder aus den Krankenhäusern wieder ab. Sie wurden aber weiterhin zur Behandlung gedrängt. Waren alle Formalien erledigt und lag der Kinderfachabteilung die Tötungsermächtigung vor, konnte sie vollzogen werden. Dies geschah durch die Injektion eines hochdosierten Barbiturats. Die Todesursache wurde in den Todesbescheinigungen mit „Lungenentzündung“ angegeben. Es konnte später nicht genau aufgeklärt werden, wie viele Tötungen vollzogen wurden. Die Anklageschrift im Prozess nach dem Krieg ging von 12 Kindern in Langenhorn und 56 Kindern in Rothenburgsort aus. Es waren aber nach neueren Erkenntnissen vermutlich 22 und 60 Kinder. Allerdings wurden auch Verlegungen von Kindern in andere Anstalten vorgenommen, in denen ebenfalls Tötungen vollzogen wurden.{158}

      Die Psychiater des Jugendamtes konnten mit ihrer Begutachtung eine Überweisung in eine Heilanstalt veranlassen. In Hamburg waren dies die Alsterdorfer Anstalten, es kamen aber auch andere Einrichtungen in Betracht. Nach Anlaufen des Euthanasieprogramms wurde der Weg von dort in Einrichtungen veranlasst, die dann eine Tötung verübten. So wurden allein am 7. August 1943 80 Kinder aus den Alsterdorfer Anstalten in die Heil- und Pflegeanstalten Kulmenhof und Eichberg verlegt. Viele von ihnen kamen zuvor aus den Heimen des Landesjugendamtes, etwa aus dem Johannes-Petersen Heim, dem Kleinkinderhaus Winterhuder Weg oder auch der Kindergruppe der Einrichtung Feuerbergstraße.{159} Die Selektion fand bereits in den Aufnahmestationen oder Durchgangsheimen statt, wie der Fall der 17jährigen, geistig behinderten Olga C. zeigt. Bis zum Januar 1943 lebte sie bei ihren Eltern, als die Mutter erkrankte und Olga im Durchgangsheim Schwanenwik untergebracht wurde. Dort erkannte man ihre Behinderung. Bereits nach wenigen Tagen wurde den Eltern das Sorgerecht entzogen, das Mädchen in die Anstalt Langenhorn verlegt und von dort am 22.6.1943 der Tötungsanstalt Hadamar zur Euthanasie ausgeliefert. Die Krankenakte verzeichnete acht Tage später ihren Tod an ‚Pneumonie‘.“{160}

      Der im April 1938 geborene Junge Alfred Rahnert{161} wurde wenige Wochen nach seiner Geburt im städtischen Kinderheim im Eißendorfer Pferdeweg aufgenommen. Seine Mutter war nach der Geburt gestorben und sein Vater, der mit Alfreds Mutter eine außereheliche Beziehung unterhalten hatte, wandte sich von dem Kind ab. Er hatte vier Kinder aus seiner Ehe und war mit seinem eigenen Leben schon überfordert. Er litt unter Lähmungen, aus denen die Ärzte für Alfred eine erbliche Vorbelastung ableiteten. Das Baby wuchs im Kinderheim auf. In der damaligen Zeit war man noch der Überzeugung, dass Babys und Kleinkinder vor allem gepflegt werden müssten und keiner weiteren Ansprache bedurften. Im November 1939 fielen dem Heimarzt Dr. Gräfe dann Alfreds Entwicklungsverzögerungen auf. „Er konnte weder sitzen noch sprechen, musste gefüttert werden und war kaum ansprechbar.“ Da Alfred keine „Schwierigkeiten“ bereitete, wurde er im Heim belassen. Ein halbes Jahr später wurde Alfred erneut durch Gräfe untersucht. Er kam nun zu der Feststellung, dass Alfred „seiner Unterwertigkeit wegen und im Interesse der Betreuung der gesunden Kinder nicht tragbar“ und nicht erziehungsfähig sei. Damit hatte er das Kind aufgegeben. Er empfahl die Unterbringung in den Alsterdorfer Anstalten, in die Alfred im Juni 1940 verlegt wurde. In der Eingangsuntersuchung wurde bei Alfred „Debilität“ und später „Imbezillität“ diagnostiziert. Als nach den Bombennächten im Juli 1943 die Anstalten geräumt wurden, gehörte Alfred zu den 52 Jungen, die in die Heil- und Pflegestation Kalmenhof verlegt wurden. In der dortigen Kinderfachabteilung wurde er am 11. November 1943 ermordet.

      Widerständige Jugendliche waren ebenfalls Ziel der Aussonderung. In einer Beiratssitzung der Sozialverwaltung vom 6. Februar 1941 führte der Leiter