Der Idiot. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754188651
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mußte er diese Hoffnung aufgeben: der General führte ihn die Treppe hinauf wie jemand, der da wirklich Bekannte hatte, und schaltete alle Augenblicke detaillierte Bemerkungen biographischen und topographischen Inhalts ein, die den Eindruck mathematischer Genauigkeit machten. Als sie endlich in der Beletage angelangt waren und rechts vor der Eingangstür einer prächtigen Wohnung haltmachten und der General nach dem Griff der Klingel faßte, da beschloß der Fürst, davonzulaufen; aber ein sonderbarer Umstand hielt ihn noch einen Augenblick zurück. »Sie haben sich geirrt, General«, sagte er; »hier an der Tür steht der Name Kulakow, und Sie wollten doch bei Sokolowitsch klingeln.«

      »Kulakow ... Kulakow beweist nichts. Das ist Sokolowitschs Wohnung, und ich klingle bei Sokolowitsch. Ich schere mich den Teufel um Kulakow ... Da wird schon geöffnet.«

      Die Tür öffnete sich wirklich. Ein Diener schaute heraus und meldete, die Herrschaften seien nicht zu Hause.

      »Wie schade, wie schade! Daß wir es so schlecht getroffen haben!« wiederholte Ardalion Alexandrowitsch mehrere Male hintereinander mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns. »Bestellen Sie, lieber Freund, daß General Iwolgin und Fürst Myschkin gewünscht hätten, den Herrschaften ihre besondere Hochachtung zu bezeigen und außerordentlich, außerordentlich bedauert hätten ...«

      In diesem Augenblick schaute aus einem der Zimmer durch die geöffnete Eingangstür noch ein anderes Gesicht heraus, anscheinend das Gesicht einer Wirtschafterin oder vielleicht auch Gouvernante, einer etwa vierzigjährigen Dame in einem dunklen Kleid. Als sie die Namen des Generals Iwolgin und des Fürsten Myschkin hörte, näherte sie sich neugierig und mißtrauisch.

      »Marja Alexandrowna ist nicht zu Hause«, sagte sie, indem sie besonders den General scharf ansah; »sie ist mit dem gnädigen Fräulein Alexandra Michailowna zur Großmutter gefahren.«

      »Auch Alexandra Michailowna ist mit ihr aus! O Gott, wie bedauerlich! Und denken Sie sich nur, Madame, solch Mißgeschick habe ich immer! Ich bitte Sie ganz ergebenst, meine Empfehlung auszurichten und an Alexandra Michailowna zu bestellen, sie möchte sich erinnern ... mit einem Wort, sagen Sie ihr, ich wünschte ihr von Herzen das, was sie selbst sich am Donnerstagabend bei den Klängen des Chopinschen Liedes gewünscht habe; sie wird sich schon erinnern ... Das sei mir ein Herzenswunsch! General Iwolgin und Fürst Myschkin!«

      »Ich werde es nicht vergessen«, versetzte, den Abschiedsgruß erwidernd, die Dame, die etwas mehr Vertrauen zu den Besuchern gewonnen hatte.

      Während sie die Treppe hinunterstiegen, bedauerte der General immer noch in derselben affektvollen Weise, daß sie die Herrschaften nicht angetroffen hätten und daß dem Fürsten eine so entzückende Bekanntschaft entgangen sei.

      »Wissen Sie, mein Lieber, es liegt eine gewisse gefühlvolle Schwärmerei in meinem Wesen; haben Sie das wohl schon bemerkt? Übrigens ... übrigens scheint mir, daß wir an eine falsche Stelle gekommen sind«, schloß er auf einmal ganz unerwartet. »Jetzt erinnere ich mich: Sokolowitschs wohnen in einem andern Haus und, wenn mir recht ist, jetzt sogar in Moskau. Ja, ich habe mich ein bißchen geirrt; aber ... das tut nichts.«

      »Ich möchte nur eines wissen«, bemerkte der Fürst niedergeschlagen, »ist es nicht das beste, wenn ich auf Ihre Beihilfe ganz verzichte und lieber allein hingehe?«

      »Verzichten? Allein hingehen? Aber wieso denn, da das doch für mich ein äußerst wichtiger Schritt ist, von dem so viel in dem Schicksal meiner ganzen Familie abhängt? Aber da kennen Sie Iwolgin schlecht, mein junger Freund! Wer ›Iwolgin‹ sagt, der sagt ›Mauer‹. ›Auf Iwolgin kann man sich wie auf eine Mauer verlassen‹, so hieß es schon in der Schwadron, in der ich meine dienstliche Laufbahn begann. Ich muß nur noch unterwegs zu einem Haus gehen, in dem meine Seele schon seit mehreren Jahren ihre Erholung findet von all der Unruhe und den schweren Prüfungen, die ...«

      »Sie wollen erst noch nach Hause gehen?«

      »Nein, ich will ... zu der Frau Hauptmann Terentjewa, der Witwe des Hauptmanns Terentjew, meines früheren Untergebenen, ja Freundes ... Hier, bei der Frau Hauptmann, lebe ich seelisch wieder auf; hierher trage ich all das Leid, das das Leben und meine Familie mir bereiten ... Und da gerade heute ein schwerer Druck auf meiner Seele lastet, so möchte ich ...«

      »Ich glaube«, murmelte der Fürst, »ich habe so schon eine große Torheit begangen, als ich Sie vorhin mit meiner Bitte belästigte. Und außerdem wollen Sie ja jetzt ... Adieu!«

      »Aber ich darf Sie jetzt nicht weggehen lassen, mein junger Freund; das darf ich nicht!« rief der General. »Sie ist eine Witwe, eine Familienmutter und vermag in ihrem Herzen Saiten erklingen zu lassen, die in meinem ganzen Wesen ihren Widerhall finden. Der Besuch bei ihr wird nur fünf Minuten dauern; in diesem Haus verkehre ich ganz ungeniert; ich wohne da fast. Ich will mich da waschen und die nötigste Toilette machen, und dann fahren wir in einer Droschke nach dem Großen Theater. Seien Sie überzeugt, daß ich Ihrer den ganzen Abend über bedarf ... Hier in diesem Haus ist es; wir sind schon da ... Ah, Kolja, du bist schon hier? Nun, ist Marfa Borisowna zu Hause, oder bist du selbst eben erst gekommen?«

      »O nein«, antwortete Kolja, der unerwartet mit ihnen in der Haustür zusammengestoßen war, »ich bin schon eine ganze Weile hier bei Ippolit; es geht ihm schlechter; er hat sich heute vormittag hinlegen müssen. Ich habe jetzt eben ein Spiel Karten vom Kaufmann geholt. Marfa Borisowna erwartet Sie. Aber, Papa, in welchem Zustand sind Sie!« schloß Kolja, indem er den Gang und die Haltung des Generals scharf musterte. »Nun, dann wollen wir hinaufgehen!«

      Die Begegnung mit Kolja bewog den Fürsten, den General auch noch zu Marfa Borisowna zu begleiten, aber nur auf eine Minute. Der Fürst brauchte Kolja; von dem General wollte er sich unter allen Umständen losmachen, und er konnte es sich nicht verzeihen, daß er vorhin den Einfall gehabt hatte, auf diesen Menschen irgendwelche Hoffnungen zu setzen. Auf der Hintertreppe stiegen sie zum vierten Stock hinauf, was ziemlich lange dauerte.

      »Wollen Sie den Fürsten dort einführen?« fragte Kolja unterwegs.

      »Ja, mein Sohn, das will ich: General Iwolgin und Fürst Myschkin. Aber wie ist Marfa Borisownas Befinden ... und Stimmung ...?«

      »Wissen Sie, Papa, es wäre am besten, wenn Sie nicht zu ihr gingen! Sie ist wütend auf Sie! Sie haben sich seit drei Tagen nicht blicken lassen, und sie wartet auf Geld. Warum haben Sie ihr Geld versprochen? So machen Sie es immer! Nun müssen Sie sehen, wie Sie mit ihr fertig werden.«

      Im vierten Stock blieben sie vor einer niedrigen Tür stehen. Der General war augenscheinlich ängstlich geworden und schob den Fürsten vor.

      »Ich werde hier stehenbleiben«, murmelte er. »Ich möchte sie überraschen ...«

      Kolja ging zuerst hinein. Eine stark geschminkte, etwa vierzigjährige Dame, in Pantoffeln und Hausjacke, die Haare in kleine Zöpfe geflochten, sah aus der Tür, und die vom General geplante Überraschung fiel sofort ins Wasser. Kaum hatte ihn die Dame erblickt, als sie schrie:

      »Da ist er ja, der gemeine, schändliche Mensch! Das hatte ich doch geahnt!«

      »Kommen Sie nur mit herein; sie scherzt nur!« flüsterte der General, immer noch harmlos lächelnd, dem Fürsten zu.

      Aber es war kein Scherz gewesen. Kaum waren sie durch ein dunkles, niedriges Vorzimmer in den engen, mit sechs Rohrstühlen und zwei Spieltischen möblierten Salon getreten, als die Dame sofort mit gekünstelter, weinerlich klingender, ordinärer Stimme fortfuhr:

      »Schämst du dich denn gar nicht, du Barbar, du Tyrann meiner Familie, du Barbar und Unmensch? Ganz ausgeplündert hat er mich; alles hat er mir abgepreßt, und damit ist er noch nicht zufrieden! Wie lange soll ich das noch von dir ertragen, du schamloser, ehrloser Mensch?«

      »Marfa Borisowna, Marfa Borisowna! Das ist hier Fürst Myschkin. General Iwolgin und Fürst Myschkin«, murmelte der General zitternd und fassungslos.

      »Können Sie es glauben«, wandte sich die Frau Hauptmann plötzlich an den Fürsten, »können Sie es glauben, daß dieser schamlose Mensch nicht einmal mit meinen vaterlosen Kindern Mitleid gehabt hat? Alles hat er uns geraubt, alles weggeschleppt, alles verkauft und versetzt; nichts hat er