Der Idiot. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754188651
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derjenige Punkt, auf dem das ganze Manöver der beiden Freunde beruhte, nämlich die Möglichkeit, Nastasja für Ganja zu interessieren, gewann allmählich eine klarere, bestimmtere Gestalt, so daß selbst Tozki manchmal anfing, an die Möglichkeit des Gelingens zu glauben. Unterdessen sprach sich Nastasja Filippowna mit Ganja aus; Worte wurden dabei allerdings nicht viele gewechselt, als ob ihr Schamgefühl dabei gar zu sehr litte. Sie gestattete ihm, sie weiter zu lieben, erklärte aber auf das bestimmteste, sie wolle sich in keiner Weise binden; sie behalte sich bis zur Hochzeit (wenn es wirklich zur Hochzeit komme) das Recht vor, nein zu sagen, sogar bis zur letzten Stunde; ganz dasselbe Recht gestehe sie auch ihm zu. Bald darauf erfuhr Ganja durch einen dienstfertigen Zufall, daß der Widerwille seiner ganzen Familie gegen diese Ehe und gegen Nastasja Filippownas Person, der sich in wiederholten häuslichen Szenen geäußert hatte, bereits mit vielen Einzelheiten zu Nastasja Filippownas Kenntnis gelangt war; sie selbst redete mit ihm nicht darüber, obgleich er es täglich erwartete. Es ließe sich übrigens noch vieles von all den unangenehmen Geschichten erzählen, die anläßlich dieser Brautwerbung und der darauf bezüglichen Verhandlungen vorkamen; aber wir haben auch so schon vorgegriffen, auch erschien manches davon erst in Form sehr unbestimmter Gerüchte. So hatte zum Beispiel Tozki irgendwoher erfahren, daß Nastasja Filippowna in irgendwelche nicht näher bekannten, geheimen Beziehungen zu den Jepantschinschen jungen Damen getreten sei – ein ganz unglaubwürdiges Gerücht. Dagegen schenkte er einem anderen Gerücht unwillkürlich Glauben und wurde dadurch in große Beängstigung versetzt: er hörte als sicher, Nastasja Filippowna wisse ganz genau, daß Ganja sie nur des Geldes wegen heiraten wolle; daß Ganja ein schwarzes, habgieriges, unverträgliches, neidisches und grenzenlos egoistisches Herz habe; daß Ganja zwar wirklich früher leidenschaftlich danach gestrebt habe, sie zu erobern, daß er aber, seitdem die beiden Freunde beschlossen hätten, diese nunmehr von beiden Seiten beginnende Leidenschaft zu ihrem Vorteil auszubeuten und ihn dadurch zu erkaufen, daß sie ihm Nastasja Filippowna als rechtmäßige Gattin verkauften, die bisher Geliebte nun grimmig hasse; daß in seinem Herzen Leidenschaft und Haß jetzt in sonderbarer Weise vereinigt seien und er zwar schließlich nach qualvollem Hin-und Herschwanken eingewilligt habe, »das liederliche Frauenzimmer« zu heiraten, aber sich selbst im stillen geschworen habe, sich später dafür bitter an ihr zu rächen und sie schwer dafür »büßen zu lassen«, wie er sich selbst ausgedrückt habe. Alles dies wisse Nastasja Filippowna und bereite im geheimen irgend etwas vor. Tozki war dermaßen verängstigt, daß er nicht einmal dem General Jepantschin etwas von seinen Befürchtungen mitteilte; aber es kamen auch Augenblicke vor, in denen er, wie das schwachherzige Menschen zu tun pflegen, den Kopf wieder aufrichtete und schnell neuen Mut faßte; so ermutigte es ihn zum Beispiel außerordentlich, als Nastasja Filippowna endlich den beiden Freunden das Versprechen gab, sie werde am Abend ihres Geburtstages das entscheidende Wort sprechen.

      Aber dagegen erwies sich ein ganz seltsames und ganz unglaubliches Gerücht, das den achtenswerten Iwan Fjodorowitsch selbst betraf, leider mehr und mehr als richtig. Auf den ersten Blick erschien dabei alles als der bare Unsinn. Es war schwer zu glauben, daß Iwan Fjodorowitsch bei seinem würdigen, hohen Lebensalter, bei seinem vortrefflichen Verstand und seiner praktischen Lebenskenntnis usw., usw. sich in Nastasja Filippowna verliebt haben sollte, und zwar gleich dermaßen, daß diese wunderliche Verwirrung fast einer Leidenschaft ähnelte. Worauf er dabei seine Hoffnungen gründete, das war schwer auszudenken; vielleicht sogar auf Ganjas eigenen Beistand. Tozki vermutete wenigstens etwas Derartiges; er vermutete, daß eine beinahe ohne Worte abgeschlossene, auf gegenseitigem Verständnis beruhende Verabredung zwischen dem General und Ganja bestehe. Übrigens ist bekannt, daß ein Mensch, der in den Bann einer Leidenschaft gerät, namentlich wenn er schon bei Jahren ist, vollständig blind wird und sich Hoffnungen macht, wo für ihn nicht die geringste Aussicht ist, ja, alles gesunde Urteil verliert und, obwohl sonst ein Ausbund von Klugheit, nun wie ein törichtes Kind handelt. Man wußte, daß der General vorhatte, Nastasja Filippowna zu ihrem Geburtstag einen wundervollen Perlenschmuck zu schenken, der enorm viel Geld kostete, und sich von diesem Geschenk viel versprach, obgleich er Nastasja Filippownas Uneigennützigkeit kannte. Am Abend vor ihrem Geburtstag war er wie in einem Fieber, wiewohl er sich geschickt beherrschte. Von ebendiesem Perlenschmuck hatte auch die Generalin Jepantschina gehört. Allerdings hatte Lisaweta Prokofjewna schon seit längerer Zeit Proben von der Flatterhaftigkeit ihres Gatten gehabt und sich sogar zum Teil daran gewöhnt; aber eine solche Gelegenheit durfte sie doch nicht unbenutzt vorübergehen lassen: das Gerücht von dem Perlenkauf regte sie außerordentlich auf. Der General merkte das zum Glück noch rechtzeitig, indem die Generalin schon am Abend vor dem Geburtstag ein paar Anspielungen darauf machte; er ahnte, daß die eigentliche Auseinandersetzung ihm noch bevorstand, und fürchtete sich davor. Dies war der Grund, weshalb er an dem Morgen, mit dem wir unsere Erzählung begonnen haben, schlechterdings keine Lust hatte, im Schoß der Familie sein Frühstück einzunehmen. Noch bis zur Ankunft des Fürsten war er entschlossen gewesen, sich mit dringenden Geschäften zu entschuldigen und der Sache aus dem Weg zu gehen. Aus dem Weg zu gehen bedeutete bei dem General manchmal nichts anderes als die Flucht ergreifen. Er wollte wenigstens diesen einen Tag und namentlich den heutigen Abend ohne Unannehmlichkeiten genießen. Da stellte sich plötzlich, wie gerufen, der Fürst ein. »Den hat mir Gott gesandt!« dachte der General im stillen, als er zu seiner Gemahlin ins Zimmer trat.

      Die Generalin war auf ihre Abstammung stolz. Wie mußte ihr da zumute sein, als sie so geradezu und ohne alle Vorbereitung hörte, daß dieser letzte Sprößling des Myschkinschen Fürstengeschlechts, über den ihr bereits einiges zu Ohren gekommen war, nichts weiter als ein kläglicher Idiot und beinah ein Bettler sei und Almosen annehme! Denn der General haschte bei der Schilderung, die er von ihm entwarf, nach Effekt, um gleich von vornherein das Interesse seiner Gattin für ihn zu erwecken, ihre Gedanken nach einer andern Seite abzulenken und infolge dieser Erregung der Frage nach dem Perlenschmuck zu entgehen.

      Bei besonderen Ereignissen riß die Generalin gewöhnlich die Augen sehr weit auf, bog den Oberkörper etwas zurück und blickte, ohne ein Wort zu sagen, starr vor sich hin. Sie war eine hochgewachsene Frau, von gleichem Alter wie ihr Mann, mit dunklem, größtenteils schon ergrautem, aber immer noch dichtem Haar, mit etwas gekrümmter Nase, mager, mit gelben, eingefallenen Wangen und schmalen, welken Lippen. Ihre Stirn war hoch, aber nicht breit; die grauen, ziemlich großen Augen hatten mitunter einen recht ungewöhnlichen Ausdruck. Sie hatte früher die Schwäche gehabt, zu glauben, daß ihr Blick außerordentlichen Eindruck mache, und diese Überzeugung war ihr unausrottbar verblieben.

      »Empfangen? Sie sagen, ich soll ihn empfangen, jetzt, auf der Stelle?«

      Dabei riß die Generalin die Augen auf, so weit es nur ging, und blickte den vor ihr auf und ab gehenden Iwan Fjodorowitsch an.

      »Oh, du brauchst mit ihm gar keine Umstände zu machen, liebe Frau, falls du überhaupt Lust hast, ihn zu sehen«, beeilte sich der General erläuternd hinzuzufügen. »Er ist das reine Kind und dabei so bemitleidenswert; er leidet an irgendwelchen Krankheitsanfällen; er kommt soeben aus der Schweiz, direkt von der Bahn, trägt einen sonderbaren Anzug, wohl nach deutscher Art, und hat überdies buchstäblich keine Kopeke in seinem Besitz; er weint beinah. Ich habe ihm fünfundzwanzig Rubel geschenkt und will ihm bei uns in einem Bureau eine kleine Stelle als Schreiber verschaffen. Und euch, mesdames, bitte ich, ihn zu bewirten, da er, wie es scheint, auch recht hungrig ist ...«

      »Sie setzen mich in Erstaunen«, erwiderte die Generalin in derselben Art wie vorher, »hungrig und Anfälle! Was sind denn das für Anfälle?«

      »Oh, sie wiederholen sich nicht oft, und überdies ist er sonst wie ein Kind, übrigens ein gebildeter Mensch. Ich wollte euch bitten, mesdames«, wandte er sich wieder zu seinen Töchtern, »ihn ein bißchen zu examinieren; es wäre doch gut, wenn man wüßte, wozu er zu brauchen ist.«

      »Ex-a-mi-nie-ren?« fragte die Generalin in gedehntem Ton und ließ höchst erstaunt ihre Augen wieder von ihren Töchtern zu ihrem Mann und umgekehrt herüberrollen.

      »Ach, liebe Frau, so mußt du das nicht auffassen ... übrigens ganz, wie es dir gefällig ist; ich wollte ihm eine kleine Freundlichkeit erweisen und ihn bei uns verkehren lassen; denn das ist beinahe ein gutes Werk.«

      »Bei uns verkehren lassen? Aus der