Der Idiot. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754188651
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das vergoldete Dach ihrer Kuppel glänzte im hellen Sonnenschein. Er erinnerte sich, daß er unverwandt nach diesem Dach und den davon ausgehenden Strahlen hingeblickt habe; er habe sich von diesen Strahlen gar nicht losreißen können; er habe die Vorstellung gehabt, als gehörten diese Strahlen zu seiner neuen Natur und als werde er in drei Minuten irgendwie mit ihnen zusammenfließen ... Die Ungewißheit und der Widerwille gegen dieses Neue, das geschehen und sogleich herankommen werde, seien furchtbar gewesen; aber er sagte, nichts habe ihm während dieser Zeit größere Pein bereitet als der unaufhörliche Gedanke: ›Wie aber, wenn ich nun nicht zu sterben brauchte? Wenn ich weiterleben könnte? Welche unendliche Perspektive! Und das alles würde dann mein sein! Ich würde dann jede Minute in eine ganze Ewigkeit verwandeln; nichts von meiner Zeit würde ich verlieren, jede Minute berechnen, keinen Augenblick nutzlos verschwenden!‹ Er sagte, dieser Gedanke habe sich bei ihm schließlich in einen solchen Ingrimm umgewandelt, daß er sogar gewünscht habe, nur möglichst bald erschossen zu werden.«

      Der Fürst schwieg plötzlich; alle hatten erwartet, daß er noch weiterreden und aus dem Erzählten Schlußfolgerungen ziehen werde.

      »Sind Sie zu Ende?« fragte Aglaja.

      »Wie beliebt? Ja, ich bin zu Ende«, erwiderte der Fürst, der eine Weile in Gedanken versunken dagesessen hatte und nun wieder zu sich kam.

      »Aber zu welchem Zweck haben Sie uns denn das erzählt?«

      »Eine besondere Absicht hatte ich nicht dabei ... es ist mir eingefallen ... ich kam im Gespräch darauf ...«

      »Sie brechen sehr kurz ab«, bemerkte Alexandra. »Sie wollten gewiß daraus folgern, Fürst, daß man keinen Augenblick nach Kopeken abschätzen kann und daß fünf Minuten mitunter wertvoller sind als ein Schatz Goldes. Das ist alles sehr löblich; aber gestatten Sie doch eine Frage: wie hat sich denn nun dieser Freund verhalten, der Ihnen eine solche Leidensgeschichte erzählt hat? Seine Strafe ist ja umgewandelt worden, und man hat ihm also dieses endlose Leben geschenkt. Was hat er denn nachher mit diesem Reichtum angefangen? Hat er denn nun jede Minute sorgsam ausgenutzt?«

      »Oh nein, er hat mir selbst gesagt (denn ich habe ihn danach gefragt), daß er keineswegs so gelebt, sondern viele, viele Minuten verloren habe.«

      »Nun also, da haben Sie einen Beleg dafür, daß man tatsächlich nicht imstande ist, das Leben vollständig auszukosten. Es muß wohl einen Grund geben, weshalb das unmöglich ist.«

      »Ja, es muß aus irgendeinem Grunde unmöglich sein«, wiederholte der Fürst. »Ich habe mir das selbst gesagt ... Aber ich weiß nicht, wie es kommt: ich glaube es doch nicht so recht ...«

      »Das heißt, Sie glauben, daß Sie verständiger leben werden als alle anderen Menschen?« fragte Aglaja.

      »Ja, auch das habe ich manchmal geglaubt.«

      »Und Sie glauben es noch?«

      »Und ... ich glaube es noch«, versetzte der Fürst und sah Aglaja mit demselben stillen, ja schüchternen Lächeln an wie vorher; dann aber lachte er sofort wieder auf, und sein auf sie gerichteter Blick wurde fröhlich und heiter.

      »Sehr bescheiden gesprochen«, bemerkte Aglaja in einem Ton, der beinah gereizt klang.

      »Wie tapfer Sie doch alle sind! Da lachen Sie nun, und auf mich wirkte seine ganze Erzählung so stark, daß ich nachher davon träumte, und namentlich von diesen fünf Minuten ...«

      Er ließ seine Augen noch einmal prüfend und ernst über seine Zuhörerinnen hinschweifen.

      »Sie zürnen mir doch nicht aus irgendeinem Grund?« fragte er plötzlich; er war anscheinend verlegen, blickte aber doch allen gerade in die Augen.

      »Aber weswegen denn?« riefen alle drei Mädchen erstaunt.

      »Nun, weil ich sozusagen den Schulmeister spiele ...«

      Alle lachten.

      »Wenn Sie mir zürnen, dann werden Sie mir, bitte, wieder gut!« sagte er. »Ich weiß ja selbst, daß ich weniger als andere gelebt habe und weniger als alle andern vom Leben verstehe. Ich rede vielleicht manchmal sehr wunderlich ...«

      Hier geriet er tatsächlich ganz in Verwirrung.

      »Wenn Sie sagen, daß Sie glücklich waren, so haben Sie nicht weniger gelebt als andere, sondern mehr; warum verstellen Sie sich dann also und entschuldigen sich?« begann Aglaja in scharfem, zänkischem Ton. »Sie brauchen sich übrigens nicht darüber zu beunruhigen, daß Sie uns belehren; von einem solchen Triumph Ihrerseits kann gar nicht die Rede sein. Bei Ihrem Quietismus kann man auch ein Leben, das hundert Jahre dauert, mit Glück anfüllen. Mag man Ihnen nun eine Hinrichtung oder einfach einen Finger zeigen, Sie werden aus dem einen und aus dem andern in gleicher Weise einen löblichen Gedanken schöpfen und dabei zufrieden und glücklich sein. Auf die Art läßt sich das Leben ertragen.«

      »Ich verstehe nicht, warum du dich immer so ereiferst«, sagte die Generalin, die schon lange die Gesichter der Redenden beobachtet hatte, »und wovon ihr eigentlich redet, daraus kann ich auch nicht klug werden. Von was für einem Finger ist denn die Rede? Was ist das für ein Unsinn? Der Fürst spricht sehr schön; nur ist das, was er sagt, ein bißchen zu traurig. Warum entmutigst du ihn? Als er anfing, lachte er, und jetzt ist er ganz verstört.«

      »Ach was, Mama! Aber es ist schade, Fürst, daß Sie keine Hinrichtung mit angesehen haben; ich hätte Sie gern über einen Punkt befragt.«

      »Ich habe eine Hinrichtung mit angesehen«, versetzte der Fürst.

      »Wirklich?« rief Aglaja. »Das hätte ich mir von vornherein denken sollen! Das setzt dem Ganzen die Krone auf. Nun also, wenn Sie eine Hinrichtung mit angesehen haben, wie können Sie dann sagen, daß Sie die ganze Zeit über glücklich gelebt haben? Habe ich nicht recht?«

      »Fand denn die Hinrichtung in Ihrem Dorf statt?« fragte Adelaida.

      »Ich habe ihr in Lyon beigewohnt; ich war mit Schneider dorthin gefahren. Gleich nachdem wir angekommen waren, stießen wir auf diese Szene.«

      »Nun, hat es Ihnen gefallen? War viel Erbauliches und Nützliches dabei?« fragte Aglaja.

      »Es hat mir ganz und gar nicht gefallen, und ich war danach sogar etwas krank; aber ich gestehe, daß ich wie angeschmiedet dastand und hinsah und die Augen nicht davon abwenden konnte.«

      »Ich hätte auch nicht wegsehen können«, sagte Aglaja.

      »Es wird dort nicht gern gesehen, wenn sich Frauen dabei zum Zuschauen einfinden, und es stehen über solche Frauen sogar mißbilligende Bemerkungen in den Zeitungen.«

      »Also wenn man findet, daß sich das nicht für Frauen schickt, so will man damit sagen, rechtfertigend sagen, daß es für Männer schicklich ist. Eine köstliche Logik! Und Sie denken gewiß ebenso.«

      »Erzählen Sie uns doch etwas von der Hinrichtung!« unterbrach Adelaida sie.

      »Ich möchte es jetzt nicht gern tun«, erwiderte der Fürst in sichtlicher Verlegenheit und mit düsterer Miene.

      »Sie wollen es wohl aus Schonung für uns unterlassen?« fragte Aglaja spöttisch.

      »Das nicht; aber ich möchte es nicht, weil ich von dieser Hinrichtung schon vorhin erzählt habe.«

      »Wem haben Sie denn davon erzählt?«

      »Ihrem Kammerdiener, während ich wartete.«

      »Welchem Kammerdiener?« erscholl es von allen Seiten. »Nun, dem, der da im Vorzimmer sitzt, mit dem grauen Haar und dem rötlichen Gesicht; ich habe im Vorzimmer gesessen, bis ich zu Iwan Fjodorowitsch hineingehen durfte.«

      »Das ist sonderbar«, bemerkte die Generalin.

      »Der Fürst ist ein Demokrat«, erklärte Aglaja kurz.

      »Nun, wenn Sie es Alexei erzählt haben, können Sie es uns auch nicht abschlagen.«

      »Ich will es unter allen Umständen hören«, wiederholte Adelaida ihr Verlangen.

      »Als