Der Idiot. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754188651
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Verachtung, kurz etwas, was in anständiger Gesellschaft als im höchsten Grad lächerlich und unerlaubt gilt und womit zu tun zu haben für jeden anständigen Menschen geradezu eine Strafe Gottes ist. Selbstverständlich hätte Tozki bei seinem Reichtum und bei seinen Verbindungen ohne weiteres irgendeine kleine, ganz harmlose Freveltat begehen können, um sich diese Unannehmlichkeit vom Hals zu schaffen. Andererseits war auch Nastasja Filippowna sicherlich kaum imstande, ihm etwas Schlimmes, etwa auf gerichtlichem Weg, zuzufügen; sie konnte nicht einmal einen besonderen Skandal hervorrufen, weil man sie immer mit größter Leichtigkeit in Schranken halten konnte. Aber all das war nur für den Fall richtig, daß Nastasja Filippowna sich dafür entschied, so zu handeln, wie es alle anderen Frauen in ähnlichen Fällen tun, und nicht in ihrer Exzentrizität alles Maß überschritt. Aber hier kam dem klugen Tozki seine Menschenkenntnis zustatten: Er merkte, daß Nastasja Filippowna selbst sehr wohl einsah, wie wenig sie ihm durch die Gerichte schaden konnte, und daß sie ganz andere Gedanken in ihrem Kopf umherwälzte; das verrieten ihm ihre funkelnden Augen. Da ihr nichts wertvoll war und am wenigsten ihre eigene Person (es bedurfte eines sehr klaren, eindringenden Verstandes, um in diesem Augenblick zu erkennen, daß sie schon längst aufgehört hatte, ihrer eigenen Person irgendwelchen Wert beizulegen, und um als Skeptiker und zynisch denkender Weltmann doch an die Ernsthaftigkeit dieses Gefühles zu glauben), so war Nastasja Filippowna imstande, sich selbst in häßlicher Art, etwa durch Sibirien und Zuchthaus, unwiederbringlich zugrunde zu richten, nur um den Menschen zu beschimpfen, gegen den sie einen so unmenschlichen Haß nährte. Afanasi Iwanowitsch hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß er ein wenig feige oder, besser ausgedrückt, im höchsten Grad auf Bewahrung des Dekors bedacht war. Hätte er zum Beispiel gewußt, daß man ihn auf seiner Hochzeit ermorden werde oder sich dabei sonst etwas sehr Unpassendes, Lächerliches und in der Gesellschaft nicht Übliches begeben werde, so hätte er gewiß einen großen Schreck bekommen, aber nicht sowohl eben darüber, daß man ihn ermorden, ihn schwer verwunden oder ihm vor aller Augen ins Gesicht speien werde usw., als vielmehr darüber, daß ihm dies unter Verletzung alles Brauches und Anstandes widerfahren werde. Und gerade so etwas war von Nastasja Filippowna zu erwarten, wiewohl sie noch darüber schwieg; aber er wußte, daß sie ihn durch und durch kannte und folglich wußte, wie sie ihn am empfindlichsten treffen könne. Und da die Heirat in der Tat bisher nur in Aussicht genommen war, so gab Afanasi Iwanowitsch nach und fügte sich der Forderung Nastasja Filippownas.

      An seinem Entschluß wirkte auch noch ein anderer Umstand mit: Man konnte kaum begreifen, wie unähnlich das Gesicht dieser neuen Nastasja Filippowna dem früheren geworden war. Früher war sie nur ein recht hübsches Mädchen gewesen, aber jetzt ... Tozki konnte es sich lange Zeit nicht vergeben, daß er sie vier Jahre lang angesehen hatte, ohne zu rechtem Verständnis ihres Gesichts zu gelangen. Allerdings fällt es in solchen Fällen auch sehr ins Gewicht, wenn auf beiden Seiten eine plötzliche innere Umwandlung vorgeht. Übrigens erinnerte er sich auch an einzelne Momente in der Vergangenheit, wo ihm manchmal sonderbare Gedanken gekommen waren, wenn er zum Beispiel in diese Augen hineinblickte: man konnte in ihnen sozusagen eine tiefe, geheimnisvolle Finsternis ahnen. Diese Augen blickten, als ob sie einem ein Rätsel aufgäben. In den letzten zwei Jahren hatte er sich oft über die Veränderung gewundert, die mit Nastasja Filippownas Gesichtsfarbe vorgegangen war: Das junge Mädchen war erschreckend blaß, merkwürdigerweise aber dadurch sogar noch schöner geworden. Tozki, der, wie alle Lebemänner, anfangs mit Geringschätzung daran gedacht hatte, für wie billigen Preis ihm dieses des Lebens noch unkundige Wesen zugefallen war, war in der letzten Zeit an der Richtigkeit seiner Ansicht einigermaßen irre geworden. Jedenfalls hatte er noch im letzten Frühjahr beabsichtigt, Nastasja Filippowna in Bälde mit irgendeinem verständigen, ordentlichen, in einem andern Gouvernement angestellten Beamten gut zu verheiraten und ihr eine hübsche Summe als Mitgift zu geben. (Oh, wie schrecklich und boshaft lachte Nastasja Filippowna jetzt über diesen Plan!) Aber jetzt war Afanasi Iwanowitsch, entzückt über ihren neuen Reiz, sogar auf den Gedanken gekommen, ob er von diesem Weib nicht von neuem Vorteil ziehen könne. Er beschloß, Nastasja Filippowna in Petersburg wohnen zu lassen und mit allem Komfort und Luxus zu umgeben. Konnte er das eine nicht haben, so dafür ein anderes: Mit einer Nastasja Filippowna konnte man sich schon sehen lassen und in einem gewissen Kreis sich sogar ein feines Renommee erwerben. In diesem Punkt aber legte Afanasi Iwanowitsch auf sein Renommee großen Wert.

      Jetzt wohnte nun Nastasja Filippowna schon fünf Jahre in Petersburg, und natürlich hatte während eines so langen Zeitraums vieles sich geklärt und eine bestimmte Gestalt angenommen. Afanasi Iwanowitschs Lage war wenig tröstlich; das Schlimmste war dabei, daß er, nachdem er sich einmal feig gezeigt hatte, nun nachher schlechterdings nicht zur Ruhe kommen konnte. Er fürchtete sich – und wußte selbst nicht einmal, wovor; er fürchtete sich einfach vor Nastasja Filippowna. Eine Zeitlang, nämlich während der beiden ersten Jahre, hatte er geargwöhnt, daß Nastasja Filippowna selbst den Wunsch hege, ihn zu heiraten, aber infolge eines besonderen Hochmuts schweige und beharrlich auf seinen Antrag warte. Das wäre ja von ihrer Seite ein sonderbarer Anspruch gewesen; aber Afanasi Iwanowitsch war argwöhnisch geworden: er runzelte die Stirn und überließ sich seinen trüben Gedanken. Zu seiner großen und (so ist das Menschenherz nun einmal beschaffen!) einigermaßen unangenehmen Überraschung überzeugte er sich jedoch bei einer bestimmten Gelegenheit davon, daß, auch wenn er ihr seine Hand anböte, sie sie nicht annehmen würde. Lange Zeit konnte er das nicht begreifen. Es schien ihm nur eine Erklärung dafür möglich: daß der Stolz »des beleidigten, phantastischen Weibes« so weit gehe, daß es ihr mehr Freude mache, einmal ihre Verachtung durch eine abschlägige Antwort zum Ausdruck zu bringen, als ihre Stellung für alle Zeit zu konsolidieren und ein unerhörtes Glück zu erlangen. Das Schlimmste war, daß Nastasja Filippowna in erschreckendem Maße die Herrschaft über ihn gewann. Auch auf eine Abfindungssumme, selbst auf eine sehr hoch bemessene, ging sie nicht ein, und obwohl sie den ihr angebotenen Komfort annahm, lebte sie doch sehr bescheiden und legte in diesen fünf Jahren fast nichts zurück. Afanasi Iwanowitsch hatte ein sehr schlaues Mittel versucht, um seine Ketten zu sprengen: Unmerklich und kunstvoll suchte er sie auf geschickte Weise durch ideale Lockungen zu verführen; aber all die verkörperten Ideale, Husaren, Gesandtschaftssekretäre, Dichter, Romanschriftsteller und sogar Sozialdemokraten, nichts machte auf Nastasja Filippowna irgendwelchen Eindruck, gerade als ob sie statt des Herzens einen Stein in der Brust hätte und ihre Gefühle für alle Zeit vertrocknet und erstorben wären. Sie führte ein sehr zurückgezogenes Leben, las viel, beschäftigte sich sogar mit den Wissenschaften und liebte die Musik. Bekannte hatte sie nur wenige: sie verkehrte nur mit ein paar armen, komischen Beamtenfrauen und einigen alten Schauspielerinnen; namentlich aber hegte sie eine warme Zuneigung zu der zahlreichen Familie eines achtungswerten Lehrers und wurde auch ihrerseits in dieser Familie sehr geliebt und, wenn sie zu Besuch kam, mit Freuden empfangen. Ziemlich oft fanden sich abends bei ihr fünf oder sechs Bekannte zusammen, nicht leicht mehr. Tozki erschien recht häufig und pünktlich. In der letzten Zeit war es auch dem General Jepantschin nicht ohne große Mühe gelungen, Nastasja Filippownas Bekanntschaft zu machen. Gleichzeitig machte sich auf höchst leichte, mühelose Weise auch ein junger Beamter namens Ferdyschtschenko mit ihr bekannt, ein recht kommuner, vulgärer Hansnarr, der sich als einen Bruder Lustig gab und gern trank. Des weiteren war ein eigentümlicher junger Mensch namens Ptizyn mit ihr bekannt; er war von bescheidenem Wesen und korrekten, glatten Manieren, stammte aus ärmlicher Familie und hatte sich zum Geldverleiher hinaufgearbeitet. Schließlich wurde auch Gawrila Ardalionowitsch mit ihr bekannt ... Das Resultat war, daß Nastasja Filippowna zu einer eigenartigen Berühmtheit gelangte: jedermann wußte von ihrer Schönheit, aber das war auch alles; niemand konnte sich rühmen, etwas bei ihr erreicht zu haben, niemand Nachteiliges über sie erzählen. Durch dieses Renommee und durch ihre Bildung und ihr feines Benehmen und ihren scharfen Verstand, durch alles dies ließ sich Afanasi Iwanowitsch in der Absicht bestärken, einen gewissen Plan durchzuführen. Bis zu diesem Punkt hatten sich die Dinge entwickelt, als General Jepantschin selbst daran einen tätigen, hervorragenden Anteil zu nehmen begann.

      Tozki legte, als er sich in so liebenswürdiger Weise an ihn mit der Bitte um seinen Rat in betreff einer seiner Töchter wandte, ihm durchaus ehrenhaft ein vollständiges und offenherziges Bekenntnis ab. Er eröffnete ihm, daß er entschlossen sei, vor keinem Mittel zurückzuschrecken, um seine Freiheit wiederzuerlangen; er werde sich nicht damit beruhigen, wenn sogar Nastasja Filippowna selbst ihm die Versicherung geben sollte, ihn künftig