Die Ermittler sahen sich kurz gegenseitig an und schüttelten dann den Kopf.
»Also gut.«, sagte Bierman. »Dann an die Arbeit!«
»Guten Abend, Zimmer 432 bitte« Sarah lehnte sich an den Tresen der Rezeption. Der Concierge griff in den Schrank und überreichte Sarah mit einem freundlichen Lächeln den Schlüssel zu ihrem temporären Obdach.
»Bitte schön, keine Post für Sie. Noch irgendwelche Wünsche?«
»Können Sie mir bitte eine Flasche trockenen Riesling aufs Zimmer bringen lassen?«
»Einen Durbacher, selbstverständlich!«
»Danke sehr!«
Sarah nahm den Aufzug. Für die Treppen fehlte es ihr nach diesem ersten Arbeitstag an Motivation. In ihrem Zimmer angekommen, entledigte sie sich erst ihrer Jacke und der Schuhe, ging zu ihrem Koffer, den sie bei ihrer Ankunft am gestrigen Abend noch nicht hatte ausräumen können, und suchte sich etwas Bequemes zum Anziehen. Mit einer Baumwoll-Jogginghose, Kuschelsocken, einem T-Shirt und einem Hoodie begab sie sich ins Bad. Bevor sie sich in den Wohlfühlklamotten auf das Bett lümmelte, nahm sie noch den Weinkühler mit der geöffneten Flasche entgegen, zeichnete auf der Rechnung ab und drückte dem Pagen drei Euro in die Hand. Sie schenkte sich ein Glas ein, legte sich auf das Bett und begann, den Tag zu resümieren. Eigentlich war alles sehr gut verlaufen. Die Kollegen waren alle in Ordnung. Bierman, ihr Partner, etwas verschlossen, aber sicher eine interessante Perönlichkeit. Karen schätzte Sarah als offenherzig und empathisch ein, Nico Berner als ein wenig arrogant und machomäßig. Aber auch er war keinesfalls unsympathisch. Pfefferle mochte sie sehr, er verkörperte so etwas wie den Großvater, der mit seiner gutmütigen Art alles zusammenhielt. Bei Gröber hatte sie im ersten Moment Abneigung verspürt und sie fragte sich, wie manche Menschen es schafften, ohne viel zu sagen oder zu tun, gleich einen negativen Eindruck zu hinterlassen. Nichtsdestotrotz, alles in allem bewertete sie ihre neue Situation als überaus gut. Vor allem, wenn man bedachte, dass sie schließlich gewissen Umständen in ihrer Heimat entfliehen wollte, in der Hoffnung in der Ferne ihre Geschichte besser aufarbeiten zu können.
Als hätte das Schicksal ihre Gedanken mitgelesen, klingelte in diesem Moment Sarahs Handy und im Display blinkte vollkommen unpersönlich Mutter im Rhythmus des Tons.
Sarah verdrehte die Augen, nahm einen Schluck Wein und nahm das Gespräch entgegen.
»Hansen«, meldete sie sich, vielleicht um unterbewusst zu signalisieren, dass ihre Mutter nicht allgegenwärtig war, auch nicht als gespeicherter Kontakt auf ihrem Handy, wo Walburg Hansen durch einen bloßen Anruf eine nicht erwünschte Präsenz entwickeln konnte. Diese Präsenz und die damit verknüpften Reaktionen, die sie unweigerlich bei Sarah auslöste, waren ein Grund für ihren Weggang gewesen. Sie hatte festgestellt, dass die Gefühle und Stimmungen sie weniger hart überfluteten, wenn eine räumliche Distanz zu ihrer Mutter bestand.
»Schatz, ich bin es! Ich habe mir ja solche Sorgen gemacht! Warum hast du denn gestern nicht angerufen?«, klang die Stimme weinerlich aus dem Mobiltelefon.
Der Kloß, der augenblicklich von Sarahs Hals Besitz ergriff, ließ sich nicht leicht wegschlucken, doch es gelang ihr, mit neutralem Tonfall und ohne Zittern in der Stimme zu antworten.
»Ich bin gestern erst sehr spät hier angekommen, es war viel Verkehr und bereits dunkel und ich war einfach hundemüde«, sagte sie und biss sich auf die Lippen, weil sie automatisch in die Verteidigungsrolle geschlüpft war. Das konnte sie so nicht stehen lassen!
»Außerdem habe ich dir gesagt, dass ich sicher sehr viel zu tun haben werde und nicht weiß, wann ich dich erreichen kann«, fügte sie deswegen noch hinzu und wurde innerlich drei Zentimeter größer.
»Ach, deswegen bist du auch den ganzen Tag nicht drangegangen«, stellte ihre Mutter fest, und Sarah war froh, das Handy den Tag über im Hotelzimmer gelassen zu haben.
»Ja genau. Und ich hatte auch gesagt, dass du mich bitte nur in Notfällen anrufen sollst. Aber gut… wie geht es dir denn? «
Die folgende halbe Stunde bereute Sarah jede einzelne Minute, Waldburg Hansen diese Frage gestellt zu haben, denn das Lamentieren über ihre Einsamkeit, ihre Trauer und das öde Grau, in dem sie ihre letzten Lebensjahre jetzt fristen würde, zogen sie tiefer in eine schlechte Stimmung, als sie es sich selbst eingestehen wollte. Doch sie war zu müde, um ihrer Mutter die positiven Seiten ihres Lebens vorzuhalten oder sich mit einem mentalen Panzer zu umgeben und auf eine Diskussion einzusteigen, die, wenn es schlecht lief, zu einem emotionalen Fiasko an beiden Enden der Leitung führen konnte. Also beschränkte sie sich, während sie ihren Wein trank, darauf, brav den aktiven Zuhörer zu mimen und ihrer Mutter am Ende des Telefonats eine gute Nacht zu wünschen.
Obschon die Wolkendecke nur
winzige Lücken ließ, drang vom Vollmond genügend Helligkeit durch, so dass man sich ohne künstliches Licht über den Asphalt hätte bewegen können. Unter den dichtbelaubten Bäumen aber, welche die Merianstraße säumten, war es noch ein wenig dunkler als unter freiem Himmel. Ein Passant hätte das parkende Auto schon genauer in Augenschein nehmen müssen, um zu erkennen, dass eine dunkel gekleidete Gestalt hinter dem Steuer saß. Die Straßenbeleuchtung war schon vor etwa einer halben Stunde ausgegangen und Fußgänger hatten sich seit mindestens anderthalb Stunden nicht mehr gezeigt. Bei den wenigen Fahrzeugen, die seither aufgetaucht waren, hatte es sich allesamt um Kranken- und Rettungswagen gehandelt, die das etwa 100 Meter entfernte Sankt-Josefs-Krankenhaus angesteuert hatten. Trotzdem saß die Gestalt unbeweglich da und starrte wie unter Hypnose auf das Gebäude in der Albertstraße, wo aus einem der abgedunkelten Fenster immer noch ein Lichtschein ins Freie fiel. Vor dem Institut der Rechtsmedizin, das man von dem Standort aus gerade noch einsehen konnte, parkte nur ein Wagen, ein zitronengelber Fiat Panda. Ungeduld zählte sicher nicht zu den Schwächen des wartenden Mannes, trotzdem sah er zum wiederholten Mal auf die Leuchtziffern seiner Rolex. Drei Minuten nach zwei Uhr. Das Licht, das die Anwesenheit eines Institutsmitarbeiters anzeigte, war alles andere als positiv zu bewerten. Wenn die Person nicht anderweitige Fälle aufarbeitete, beschäftigte sie sich wohl mit dem einzigen Leichnam, welcher der Rechtsmedizin seinen Informanten zu Folge am heutigen Tag geliefert worden war. Jener Leichnam, von dem er gehofft hatte, dass er ohne Obduktion zu einem der Bestattungsunternehmen gebracht werden würde. An einen Ort, an dem sein Vorhaben unendlich einfacher gewesen wäre, als jetzt. In Gedanken tüftelte er bereits einen präzisen Plan aus, wie er vorgehen würde, wenn der Mitarbeiter das Institut verlassen hatte.
Michelle Schneider schlug das Laken am Kopfende des Seziertisches zurück, trat ans Fußende und deckte auch dort den Leichnam ab. Das Tuch faltete sie noch zweimal und legte es auf den Beistellwagen zu ihrer Linken. Sie klopfte auf die Außentaschen ihres weißen Laborkittels, brachte ihr Diktiergerät zum Vorschein und drückte den Aufnahmeschalter.
»Aktenzeichen 07/BK-02. Es ist 23:17 Uhr. Beginn der äußerlichen Beschau. Der Tote ist männlich, weiß. Haarfarbe dunkelblond. Geschätzte Größe etwa ein Meter siebzig, geschätztes Gewicht etwa siebzig Kilogramm. Normale Statur.«
Sie hielt den Apparat an. Sorgfältig strich sie mit ihren latexbehandschuhten Fingern durch die Haare und untersuchte die Kopfhaut. Dann sah sie in Nasenlöcher, Mund- und Rachenraum. Langsam