Umschlagfoto: © Andre Rober
Satz: Andre Rober
Gesetzt aus der Palatino
Papier: Munken Cream
Druck: Online Druck.biz
ISBN: 978-3-947252-02-2
„Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden!“
(Genesis 4, 10)
Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, wischte sich Travor Willard mit seinen übergroßen Funktionsschweißbändern über das Gesicht und konnte so verhindern, dass das Transpirat seine Brauen durchdrang und ihm in die Augen lief. Trotz seiner vierundfünfzig Jahre war er in überdurchschnittlicher körperlicher Verfassung und lief die knapp zehn Meilen, die er täglich noch vor dem Frühstück zurücklegte, deutlich unter einer Stunde. Und das, obwohl ihn die Strecke nicht nur über den Sand von La Jolla Shores führte, sondern auch hinauf bis zum Gipfel des Mount Soledad. Zugegeben, dort oben angekommen, hielt er seinen Polar-Trainingschronographen immer für einige Minuten an, und auch heute ließ er die letzten Meter eher lockeren Schrittes hinter sich, bevor er den linken Arm hob, Zeit und Puls kontrollierte und dann die Uhr anhielt. Er stemmte seine Arme auf die Knie und atmete einige Male tief durch. Dass jetzt der Schweiß von seiner Nasenspitze herunter tropfte und auf dem staubigen Asphalt Spuren wie bei einem einsetzenden Herbstregen hinterließ, störte ihn nicht. Ein Mann seines Alters durfte ruhig ordentlich schwitzen, wenn er derart hart an seinem Körper arbeitete. Als sich sein Atem innerhalb kürzester Zeit beruhigt und sein Puls eine Frequenz unter achtzig Schlägen pro Minute erreicht hatte, richtete er sich auf und wandte seinen Blick als erstes gen Westen auf die Weite des Pazifiks, wo der Horizont um diese Uhrzeit noch eine ungetrübte dunkelblaue Farbe hatte. Obwohl er diese Aussicht, seit er dem Ruf an die UCSD vor fünfzehn Jahren gefolgt war, beinahe jeden Tag genießen konnte, war sie für ihn immer aufs Neue überwältigend. Und da sich heute der June Gloom, ein häufig im Frühsommer auftretender Morgennebel, nicht über dem Küstenstreifen gebildet hatte, war die Sicht atemberaubend. Langsam drehte er sich nach links. Im Süden konnte er nun Richtung San Diego sehen. Er erkannte die Bauten des Sea World an den Wasserflächen von Mission Bay. Westlich vom Point Loma waren eindeutig die Umrisse einiger Kriegsschiffe zu erkennen und der Flugzeugträger, der langsam hinter der Landzunge auftauchte, bestätigte Trevors Verdacht, dass gerade ein kompletter Trägerverband den Hafen von San Diego verließ. Richtung Osten konnte er selbst mit zusammengekniffenen Augen nicht schauen, zu grell war bereits das Licht der Sonne, die über den Bergen des Cleveland National Forrest und des Cuyamaca Rancho State Parks stand. Erst als er seine Augen weiter in Richtung Norden wandern ließ und mit ausgestreckter Hand für Schatten auf seinem Gesicht sorgte, konnte er wieder in die Ferne schauen. Er versuchte die weißen Kuppeln des etwa 50 Meilen entfernten Palomar Observatory auszumachen, durch dessen Teleskope er und seine Tochter am letzten Wochenende Sterne und Planeten beobachtet hatten. Die sechzehnjährige Helena, benannt nach der nach Troja entführten griechischen Prinzessin, hatte sich seit langem wieder einmal zu einem Wochenendausflug mit Trevor überreden lassen. Auch wenn er als alleinerziehender Vater alles unternommen hatte, um seine Tochter behütet aufwachsen zu lassen, forderte die Pubertät ihren Tribut. Trotzdem konnte er zufrieden sein, sie war ein anständiges Mädchen, das Zusammenleben mit ihr - angesichts der Geschichten, von denen er bei Elternabenden erfuhr - insgesamt sehr harmonisch. Und dass sie sich seit dem Tod von Christine, ihrer Mutter, gegenseitig umeinander kümmerten, sprach für das gute Verhältnis. Sein Blick traf jetzt den Campus der UCSD und wanderte die Küste entlang bis zu seinem Haus in der Marine Street. Wenn er zurückkam, hatte sie bestimmt schon das Frühstück vorbereitet, peinlich auf die Erfordernisse beider abgestimmt: für ihn, seit bei ihm eine Laktoseintoleranz diagnostiziert worden war, ohne Milch oder mit entsprechend anderen Produkten. Für sie, da sie sich mit dreizehn für ein Leben als Vegetarierin entschieden hatte, ohne Fleisch. Trevor musste lächeln. Er schüttelte die Beine ein wenig aus, startete seine Polar-Watch, und nahm sein Training wieder auf. Das Gipfelkreuz ließ er hinter sich und lief, um seine Knie zu schonen, etwas langsamer durch den Soledad Park hinunter. Als er an der Via Capri ankam, lief ihm bereits wieder der Schweiß durch das Gesicht. Die Abbiegung zur Hidden Valley Road war einer seiner Messpunkte, und als er abbog, sah er auf seine Polar am Handgelenk. Da er fast vierzig Sekunden über seiner Durchschnittszeit lag zog er das Tempo merklich an. Als er sich von hinten einem am Straßenrand geparkten schwarzen Chevrolet Tahoe näherte, bemerkte er ein undefinierbares Gefühl in der Herzgegend. Er maß dem keinerlei Bedeutung bei und lief unverändert weiter, doch das Gefühl wurde stärker. Mit einem Mal glaubte er, sein Herz sei etwas aus dem Rhythmus gekommen. Auch solche Aussetzer beunruhigten ihn nicht. Er hatte dies bereits von einem Kardiologen untersuchen lassen, der ihm versichert hatte, dass nichts so besorgniserregend sei wie ein Herz, das immer stur seinen monotonen Takt schlug. Ein paar Hüpfer waren folglich sogar gesund und mit diesem Gedanken lief er stoisch vor sich auf den Boden blickend weiter. Selbst als das Organ endgültig seinen Dienst einstellte, die Welt um ihn herum dunkel zu werden schien und er aus vollem Lauf auf dem Asphalt zusammenbrach, spürte er keinerlei Schmerzen.
Freiburg im Breisgau, sechs Monate später
Immer näher kamen sich die beiden Gesichter. Inmitten des lauten Tumultes, der sie umgab, zeigte der eine der beiden Männer eine konzentrierte Wachsamkeit, während der andere durch den Sehschlitz seiner schwarzen Wollmütze eine zunehmende Aggression erkennen ließ. Bis auf wenige Zentimeter hatte er seine Nase bereits der seines abwartenden Gegenübers genähert, und wäre da nicht die Plexiglasscheibe zwischen den beiden gewesen, hätte er auch vor einer Berührung nicht zurückgeschreckt. Der Polizist, der den Schild zwischen sich und dem vermummten Mann hochhielt, vermied den direkten Blickkontakt: Er wollte den anderen unter keinen Umständen provozieren, sei es durch ein Signal der Stärke, noch durch die Offensichtlichkeit von Schwäche oder gar Angst. So lag seine Konzentration darauf, in einer Linie mit seinen Kollegen zu bleiben und dem physischen Druck der Menschen vor ihnen standzuhalten, ohne jedoch mit zuviel Dominanz den Schild der aufgebrachten Menge entgegenzuschlagen. Wie lange eine Eskalation durch dieses Verhalten noch verhindert werden konnte, stand für ihn jedoch in den Sternen.
Das Rufen um sie herum wurde lauter, die Stimmung immer explosiver. Plötzlich ging ein Wasserschwall mit der Härte einer Keule über den Mann mit der Wollmütze und seine ebenfalls vermummten Mitstreiter nieder.
Also doch die Wasserwerfer, dachte der Beamte und zog reflexartig die Schultern ein wenig nach oben. Der zwölf Bar starke Strahl trieb die Gruppe vor ihm mit großer Präzision nach hinten. Der Druck auf dem Schild ließ augenblicklich nach. Als klar war, dass sich niemand mehr der phalanxähnlichen Linie der Uniformierten nähern würde, atmete auch der äußerlich immer noch gelassen wirkende Polizist auf und ließ seinen Schild fürs Erste sinken.
»Kann mir vielleicht jemand sagen, warum Gröber uns ins Sitzungszimmer bestellt hat?« Nico Berner knallte, nachdem er sich mit einem kurzen Blick durch den Raum von der Abwesenheit seines Chefs überzeugt hatte, die Tür ins Schloss. Von den drei Beamten, die bereits an dem langen Besprechungstisch saßen, zeigte zunächst keiner eine Regung. Dann lud ihn Thomas Bierman jedoch mit einer knappen Geste zum Sitzen ein. Der Kriminalhauptkommissar war kein Freund vieler Worte, deswegen sagte er nur:
»Die neue Kollegin!«
Nico Berner nahm neben Bierman Platz, ihm gegenüber saßen seine Partnerin Karen Polocek und der dienstälteste Beamte des Dezernats, Hans Pfefferle.