»Thomas?« Helen Dörr, Gröbers Sekretärin und die gute Seele der Abteilung, steckte den Kopf in den Besprechungsraum, wo immer noch Bierman, Polocek und Berner beisammensaßen und Sarah einen Einblick in die polizeiliche Arbeit in der Breisgaumetropole gaben. Natürlich war auch der ein oder andere Tipp zur Wohnsituation, zu Gastronomie oder Freizeitaktivitäten zur Sprache gekommen. Gerade hatte sich Nico Berner Sarah als ihr persönlicher Begleiter für das städtische Nachtleben angeboten, als das Klopfen Berner fürs Erste vor der Peinlichkeit einer höflichen aber sehr bestimmten Abfuhr bewahrte.
»Ja, Helen, was gibt’s?« Bierman unterbrach Berners Redefluss mit einer rüden Geste seiner rechten Hand.
»Wir haben einen Todesfall bei der Großdemo am Flugplatz.« Helen betrat das Besprechungszimmer.
»Nachdem die Situation eskaliert war und die Menge mit Wasserwerfern aufgelöst wurde, fand sich in einem der Abwassergräben eine männliche Leiche. Jetzt werden natürlich die Rufe laut, die Einsatzpolizei hätte den Tod verschuldet. Ziemlich aufgeheizte Stimmung da draußen.«
Nico Berner verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Helen fuhr fort.
»Das Einsatzteam der Schutzpolizei, das die Demo betreut hat, kommt aus Stuttgart, so dass nichts dagegenspricht, wenn wir die ersten Ermittlungen durchführen. Gröber möchte, dass du«, sie wandte sich an Bierman, »Frau Hansen mitnimmst und ihr zwei alles in die Wege leitet.«
Bierman stand auf.
»Okay.«
Er richtete seinen Blick auf Sarah.
»Sind Sie bereit? Fehlt noch was in Ihrer Ausrüstung?«
Sarah erhob sich ebenfalls.
»Meine Waffe habe ich noch nicht, die bekomme ich morgen. Ich muss noch auf dem Schießstand den sicheren Umgang demonstrieren und die erforderlichen Schießergebnisse erreichen. Ansonsten bin ich vorbereitet.«
Sie schob ihren Stuhl an seinen Platz.
»Aber ich glaube nicht, dass ich sie jetzt brauchen werde, oder?«
Bierman schüttelte den Kopf.
»Sicher nicht.«
Er packte seine Unterlagen zusammen und steckte sie in eine speckige Ledertasche.
»Und Sie müssen hier nochmal den Umgang mit der Schusswaffe unter Beweis stellen, obwohl Sie schon in Schleswig-Holstein bei der Polizei waren? Seltsam.«
»So wollen es wohl die Vorschriften. Außerdem hatte ich in Schleswig-Holstein die Sig Sauer P225 und hier wird seit kurzem die Heckler und Koch P2000 ausgegeben.«
Bierman zuckte mit den Schultern.
»Habe mir auch sofort eine H&K geben lassen, auch wenn die alten P5 weiterbenutzt werden sollten.«
Er steuerte die Tür an. Sarah folgte ihm aus dem Raum, den er, ohne sich von den anderen zu verabschieden, verließ.
Neugierig sah Sarah während
der Fahrt aus dem Wagen. Da Thomas Bierman nicht zum Reden aufgelegt schien, studierte sie die Umgebung. Sie war noch nie in Freiburg gewesen, und so beschränkte sich ihr Wissen über die Stadt und den Südschwarzwald auf den Text eines alten Baedekers, dessen Auflage ein Copyright aus den späten Achtzigern aufwies. Die entsprechenden Wikipediaeinträge zu lesen war ihr zeitlich nicht mehr möglich gewesen, da sie unmittelbar nach Abschluss ihres Falles in Husum die Umzugsvorbereitungen getroffen hatte. Gestern schließlich, als sie nach nervigen Staus bei Hannover, Kassel und zuletzt auf der A5 bei Karlsruhe erst bei Dunkelheit in Freiburg eingetroffen war, konnte sie nicht wie erhofft etwas von der Stadt erkunden. Sie hatte sich von ihrem Garmin Navigationsgerät direkt ins Park Hotel Post leiten lassen. Dies war für die nächsten knapp zweieinhalb Wochen ihre Unterkunft, denn die hübsche Maisonette, die sie kurzerhand ohne Besichtigung über einen Makler gekauft hatte, war noch nicht bezugsfertig. Sogar den Münsterturm, der die meisten Gebäude in der Stadt deutlich überragte, hatte sie heute Morgen auf dem Weg zum Präsidium lediglich kurz im Rückspiegel gesehen. Jetzt verrenkte sie sich schier den Hals, um sich zu orientieren, konnte aber nichts Markantes erkennen.
»In welche Richtung fahren wir?«, fragte sie Bierman.
»Westen, Richtung Flugplatz.«
Seine lakonische Antwort ließ nicht auf die Aufnahme einer Konversation hoffen, und so unterließ auch Sarah jeden Versuch, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Erst als sie von der Straße auf ein sehr weitläufiges, begrüntes Areal bogen und auf eine etwa fünfhundert Meter entfernte Menschenmenge zuhielten, war es Bierman, der die Stille unterbrach.
»Eine Demo gegen die jüngsten Beschlüsse des Bundestages bezüglich Datenvorhaltung, Vernetzung der internationalen Polizei und so.«
Er wies auf die etwa drei- bis viertausend Demonstranten.
»Ein Teil von denen hat bestimmt schon bei den Wyhl-Demos mitgemacht. Freiburg hat eine sehr ausgeprägte Demonstrationskultur, müssen Sie wissen.«
Sarah konnte dem Tonfall nicht entnehmen, ob das Gesagte lediglich der reinen Informationsvermittlung diente, oder ob Bierman auch eine bestimmte Wertung zum Ausdruck brachte. Sie sah ihn von der Seite an und entschied sich für ersteres. Angesichts seines fast schon rebellischen Äußeren konnte sie sich nicht vorstellen, dass er den Anliegen und Taten des eher linksalternativen Spektrums mit Respektlosigkeit und Sarkasmus begegnete. Ob er überhaupt politisch war? Sie konnte es beim besten Willen nicht sagen.
Sie erreichten eine Absperrung, hinter der die sichtlich erregten Demonstranten von Einsatzkräften einer Hundertschaft in Schach gehalten wurden. Ein uniformierter Beamter winkte sie zu sich. Bierman ließ die Seitenscheibe hinunter und streckte dem Polizisten seinen Ausweis entgegen.
»Dort hinten«, sagte der Kollege und deutete in Richtung eines Einsatzwagens, der mit Blaulicht etwa fünfzig Meter entfernt stand. Auf sein Zeichen hoben zwei weitere Beamte das Absperrband und Bierman steuerte im Schritttempo den Fundort an. Durch das offene Seitenfenster konnte Sarah auch die Sprechchöre verstehen, die die wütende Menge ihnen entgegenbrüllte. Von Datenschutz und Privatsphäre war allerdings nichts zu hören. Vielmehr hallten ihnen Sätze wie Polizisten sind Mörder und Nieder mit der Staatsgewalt entgegen. Das Geschehen hatte sich also, wie nicht anders zu erwarten, wie ein Lauffeuer verbreitet. Innerlich zuckte sie mit den Achseln und auch Bierman schienen die verbalen Attacken kalt zu lassen. Von ihren Psychologieseminaren wusste sie, wie leicht eine Menschenansammlung, die im gemeinsamen Interesse gebildet wurde, und die einen gewissen Grad der Emotionalität erreicht hatte, durch einen kleinen Auslöser und geschickte Verstärkung durch einige wenige in eine andere Richtung dirigiert werden konnte. Insofern nahm sie den einzelnen Personen die verallgemeinerten Angriffe auf sie und ihren Berufstand nicht übel,