»Oh«, sagte sie. Ich habe in zehn Minuten meinen Termin auf dem Schießstand, schaffen wir das noch?«
Bierman ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Jep«, sollte das einzige sein, was er dazu sagte.
Als Polizeimeisterin Imke Gellert
mit ihrem Partner Sven Baldas mit Blaulicht auf der B31 Richtung Höllental fuhr, hatte sie bereits ein flaues Gefühl in der Magengegend. Sie wusste nicht viel über den Unfall, zu dem sie gerufen worden waren, doch das Wenige reichte, um sich ein Schreckensbild auszumalen. Ein Vierzigtonner hatte, aus Titisee kommend, nicht weit hinter der berüchtigten Nadelöhrkurve an Fahrt aufgenommen und schließlich in der Kehre, kurz bevor die Straße zweispurig wurde, die Mittellinie überfahren und dabei ein bergauf fahrendes Fahrzeug frontal getroffen. Im Anschluss seien noch mindestens drei weitere Fahrzeuge in den querstehenden Auflieger gerast. Über Tote und Verletzte war noch nichts bekannt. Da Imke und Sven gerade in Kappel auf Streife waren, würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach die ersten Einsatzkräfte am Unfallort sein, die freiwilligen Feuerwehren des Dreisamtales vielleicht ausgenommen. Jedoch konnte Imke immer, wenn sie konzentriert ein vorausfahrendes Fahrzeug überholte, im Rückspiegel ein ganzes Meer von Blaulicht erkennen. Die Feuerwehr und Rettungswagen aus Freiburg waren also kurz hinter ihnen. Bei Buchenbach registrierte Imke, dass ihnen keine Fahrzeuge mehr entgegen kamen, so dass es einfacher wurde, die anderen Autos zu überholen. Unmittelbar hinter ihnen fädelten sich zwei Wagen der freiwillligen Feuerwehr Buchenbach ein und blieben praktisch in ihrem Windschatten. Kurz vor dem Ortsschild Falkensteig verlangsamte sich der Verkehr deutlich und beim Gasthof Zu den zwei Tauben kam die Blechkolonne vollends zum Stillstand. Da die Straße offensichtlich in beiden Richtungen vollständig blockiert war, konnte sie es wagen, zügig auf der Gegenspur an dem Stau vorbeizufahren. Über Funk hörten Imke und Sven, dass sich auch aus Hinterzarten und Titisee Einsatzkräfte der Unfallstelle näherten. Aber auch sie hatten den Ort des Geschehens noch nicht erreicht. Als sie auf Höhe der St. Oswald Kapelle die ersten Autos wenden sah, musste sie Tempo wegnehmen und nutzte die Chance, das Radio einzuschalten. Ein Sprecher verkündete gerade, dass laut eines Staumelders die Höllentalstrecke durch einen querstehenden LKW blockiert sei und riet Ortskundigen, das Gebiet zu umfahren. Es sei noch nicht abzuschätzen, wann die Unfallstelle geräumt sei, da die Rettungskräfte noch nicht vor Ort seien. Dann verwies er noch auf die SWR3-Stauhotline und spielte anschließend Budapest von George Ezra ein. Imke schaltete das Radio aus. Erfreulich, wie schnell solche Informationen mittlerweile die Autofahrer erreichten.
An der Unfallstelle erwartete sie ein schreckliches Bild, das der nüchtern vorgetragenen Meldung aus dem Rundfunk auf das Schlimmste entgegenstand. Gott sei Dank hatten sich etliche Menschen eingefunden, die nicht bloss gafften, sondern tatkräftig Hilfe leisteten. Am Straßenrand lagen mehrere Personen, an deren Seite Helfer Verbände anlegten oder einfach nur gut zuredeten. Bei zwei auf dem Boden liegenden Verletzten wurden Wiederbelebungsmaßnahmen durchgeführt. An einem Autowrack versuchten Helfer durch die geborstene Windschutzscheibe und das Seitenfenster, die eingeklemmten Insassen zu versorgen.
»Mein Gott«, entfuhr es Imke. »Schlimmer als ich dachte.« Entgegen der Informationen, die sie bei ihrer Alarmierung erhalten hatten, waren mindestens sechs Fahrzeuge in den Auflieger und ineinander geprallt. Bei einigen Trümmerhaufen konnte sie nicht einmal sagen, um wie viele Autos es sich dabei handelte. Sie konnte sich denken, dass es auf der anderen Seite ähnlich aussehen musste.
»Fordere Rettungshubschrauber an. DRF, ADAC, Schweizer Rettungsflugwacht. Alles was zu kriegen ist. Das hier gleicht einer Katastrophe!«
Sie fuhr den Wagen auf die Wiese, stieg aus und versuchte in dem Chaos zu entscheiden, wo sie beide am dringendsten gebraucht wurden.
»So, sehen Sie sich Ihre neue Waffe erst mal an.«
Sarah nahm die schmucklose Pappschachtel mit der Aufschrift Heckler&Koch vom Waffenmeister entgegen. Sie trat an den Schießstand, stellte die Schachtel vor sich ab und öffnete den Deckel. Vorschriftsmäßig hielt sie die Mündung stets in Richtung des fünfundzwanzig Meter entfernten Kugelfangs, während sie die Pistole begutachtete. Sie kam ihr etwas kleiner und ein wenig leichter vor als die P225, die sie in Flensburg und zuletzt in Husum bei sich getragen hatte.
»Sagen Sie mir, was Sie sehen.« Der Waffenmeister war neben Sarah getreten und beäugte jede ihrer Bewegungen. Sie hob die Augenbrauen ein wenig. So, wie es aussah, wollte er wirklich auch die Basics überprüfen, die Art, wie sie die Waffe nahm, ob sie die Sicherheitsregeln beachtete und jetzt auch noch diese Frage. Sie widerstand dem Versuch, übermäßig selbstsicher und cool zu reagieren, sondern antwortete sachlich.
»Halbautomatische Waffe mit Griffstück aus Kunststoff. Offene, feste Visierung, beidseitiger Schlittenfanghebel. Innenliegender Hahn, demnach Double Action. Stangenmagazin, so, wie es aussieht, zweireihig.«
Sie zog den Schlitten zurück, drückte den Fanghebel nach oben und sah in das Patronenlager.
»Waffe ist ungeladen, Magazinschacht und Patronenlager sind leer.«
»Gut! Wie liegt sie in der Hand? Ich habe das kleinste Griffstück montiert.«
Sarah nahm die Waffe in Anschlag, bediente den Fanghebel, worauf der Schlitten nach vorne schnellte. Dann ertastete sie den Magazinlöseknopf, legte den Zeigefinger entlang des Abzugsbügels und bewegte die Finger, die das Griffstück umfassten, einige Male.
»Ich denke, das passt. Ich komme an alle Bedienelemente heran und der Griff fühlt sich gut an«, antwortete sie. »Kann es sein, dass sie etwas leichter ist als die P225?«
Der Waffenmeister bestätigte ihre Vermutung.
»Etwa einhundert Gramm. Das spielt aber nur im ungeladenen Zustand eine Rolle. Die P225 fasst maximal acht Patronen. In die P2000 bekommen Sie sechzehn rein. Vollgeladen haben die beiden fast das identische Gewicht.«
Sarah nickte. Sie nahm eines der beiden Magazine aus der Schachtel und sah es sich an.
»Wo liegt der Visierpunkt auf die fünfundzwanzig Meter?«, fragte sie.
»Bei dieser hier etwa zehn Zentimeter unter Ziel. Habe sie selbst eingeschossen.«
Er spannte eine Zielscheibe in die entsprechende Vorrichtung und ließ sie mittels elektrischen Seilzuges bis ans Ende der Bahn fahren.
»Gehen Sie mal in den Anschlag und drücken Sie einige Male ab. Dann haben Sie das Gefühl für den Double Action Abzug.«
Nachdem Sarah den leeren Schießstand mit einer Anzahl von metallischem Klicken erfüllt hatte, trat der Ausbilder an einen Tresor und kam mit einem 50er Päckchen 9mm Luger, zwei Gehörschützern und einer Schießbrille zurück.
»Wie fühlt es sich an?«, fragte er.
»Gut«, antwortete Sarah kurz.
»Na, dann machen wir mal ein wenig Lärm.«
Er händigte ihr die Utensilien aus und setzte seinen eigenen Gehörschutz auf.
»Waffe mit fünf Schuss laden!«
Sarah öffnete das Pappschächtelchen und stellte die kleine Kunststoffpalette auf die Ablage. Sie drückte fünf Messingpatronen in das Magazin, schob es in den Griff und zog den Schlitten durch.
»Bereit?«
»Bereit!«
Sarah nahm die Waffe in beide Hände, hielt sie im fünfundvierzig Grad Winkel nach unten geneigt vor sich und wartete.
»Dann Feuer frei!«
Sie hob die Pistole