In seinem Auto suchte der Mann,
der in der vorletzten Nacht unbehelligt in der Rechtsmedizin seinen Job verrichtet hatte, eine geeignete Stelle, um zu telefonieren. Während der Fahrt kam dies für ihn nicht in Frage, denn wegen eines dummen und vermeidbaren Zufalls, von der Polizei unter die Lupe genommen zu werden, konnte er sich nicht leisten. In Freiburg hatte er am heutigen Tag schon einmal versucht, seine beiden Kollegen zu erreichen, doch nun war er unterwegs in Richtung Kaiserstuhl, um sicherzugehen, dass seine Anrufe aus unterschiedlichen Funkzellen erfolgten – alles, um für den unwahrscheinlichen Fall eines Auffliegens seiner Partner schwieriger zu orten zu sein. Jetzt sah er ein Schild, das auf den lokalen Golfclub hinwies, also setzte er den Blinker, bog links ab und suchte sich eine Stelle am hinteren Ende des geschotterten Platzes. Dort parkte er rückwärts im Schatten einer Buche, vergewisserte sich, dass er alles gut einsehen konnte und stellte den Motor ab. Dann zog er das Prepaidhandy aus seiner Jackentasche und drückte die Wahlwiederholung. Doch auch diesmal meldete ihm lediglich die freundlich klingende Frauenstimme, dass die Gegenstelle derzeit nicht zu erreichen sei. Stirnrunzelnd steckte er das Mobiltelefon ein, startete den Wagen und bog wieder auf die Hauptstraße.
Als der riesige Faun Autokran den Renault Sattelschlepper einige Zentimeter anhob, trennte sich dieser wie erwartet nicht von dem darunter eingeklemmten Autowrack. Mit größter Vorsicht begutachteten die Bergungsspezialisten der Feuerwehr die verkeilten Fahrzeuge und setzten hier und da einen gezielten Schnitt mit der Hydraulikschere, bis das Auto wieder zurück in seine ursprüngliche Position sackte. Nachdem die Arbeiter sich und ihr Gerät in Sicherheit gebracht hatten, hob der Kran die Zugmaschine um etwa dreißig Zentimeter an, ohne dass sich der PKW darunter bewegte. Nach dem Okay der Feuerwehrmänner hob der Kranfahrer den LKW weiter an und schwenkte die Ladung im Zeitlupentempo weg von den Trümmern des anderen Autos. Imke Gellert stand etwas oberhalb des Unfallortes und beobachtete die Bergung. Sämtliche Unfallfahrzeuge waren schon in Richtung Titisee-Neustadt abtransportiert worden. Auch die beiden anderen Sattelschlepper hatte man auf Tieflader gehoben und weggebracht. Der rumänische Auflieger stand etwas abseits und wartete darauf, abgeholt zu werden. Für die Zugmaschine stand ein weiterer Tieflader bereit, der die Überreste in eine zertifizierte Fachwerkstatt bringen würde, um die genaue Unfallursache zu ermitteln. Interessiert verfolgten Imke und einige Kollegen, wie der Kran den R370 behutsam weiter anhob und ebenso auf dem Tieflader wieder absetzte. Während die schwere Ladung von Spezialisten gesichert wurde, traten die Bestatter an die Reste des PKW. Ausgerüstet mit schulterlangen Gummihandschuhen, langen Schürzen und OP-Masken machten sie sich daran, die Überreste der Verunglückten in zwei Plastiksäcke zu packen. Auch kleinere Teile wurden in mühsamer Arbeit aus dem Wrack geborgen. Metallstreben und Pedalerie wurden auf Zeichen der Bestatter von den Feuerwehrmännern zerschnitten oder weggeflext, damit alle Gliedmaßen und abgerissenen Leichenteile eingesammelt werden konnten. Imke wusste: Diese Arbeit brachte auch die Hartgesottensten des Berufsstandes an ihre psychischen Grenzen. Nicht nur, dass entsetzlich entstellte, unkenntlich zugerichtete Körperteile eingesammelt werden mussten. Für eine erste Identifikation war es auch erforderlich, die Kleidungsstücke nach persönlichen Gegenständen der Opfer zu durchsuchen. Im besten Fall konnte ein Portemonnaie mit einem Ausweis oder Führerschein sichergestellt werden. Aber auch Schlüssel oder Handys wurden in nummerierte Tüten gepackt, um sie später zuordnen zu können. Zur gleichen Zeit, wie die Bestatter ihrem traurigen Metier nachgingen, machten sich Feuerwehrleute am Heck des Wagens zu schaffen, um das, was einmal der Kofferraum gewesen war, aufzustemmen und die Inhalte zu sichern. Kurz nachdem sie einen Teil des Daches weggebogen hatten und den Raum darunter in Augenschein nahmen, rief einer der Feuerwehrleute in Imkes Richtung:
»Wir bräuchten hier mal jemanden von der Polizei!«
Sie hob die Hand und ging hangabwärts, neugierig, was die Männer wohl gefunden hatten, das ihre Beurteilung erforderte. Am Wrack angekommen, folgte sie mit ihren Blikken dem Zeigefinger des Feuerwehrmannes, der sie gerufen hatte. In dem Durcheinander von gequetschtem, deformiertem Blech, Plastik und Filz konnte sie auch mattglänzende Metallteile erkennen. Schnell wurde ihr klar, dass es sich hier um zwei oder drei sehr stark beschädigte Aluminiumkoffer handelte. Einer war derart aufgerissen, dass Imke einen Teil des Inhaltes sehen konnte. Vor ihr lagen zwei Faustfeuerwaffen und sie konnte auch eine Maschinenpistole erkennen. Wegen der 9mm Patronen, die rund um eine aufgerissene Munitionsschachtel lagen, war sie sofort sicher, dass es sich nicht um Softair oder Gotcha Waffen handelte. Ihr lief es kalt den Rücken herunter.
»Stopp!«, rief sie laut. »Die Arbeiten sofort einstellen, treten Sie bitte alle von dem Fahrzeug zurück! Wir brauchen die Spurensicherung und die Kriminalpolizei!«
Sarah konnte die Freude in ihrem Gesicht nicht gänzlich unterdrücken, als sie die Tür zu ihrem Büro öffnete. Ihr Partner Bierman, der an dem rechten der beiden sich gegenüberstehenden Schreibtische in eine Akte vertieft war, nahm zunächst keine Notiz von ihr. Sie schloss die Tür und blieb provokativ, ohne ein Wort zu sagen mit der Klinke in der Hand stehen. Es dauerte immerhin eine halbe Minute bis Bierman ein wenig irritiert aufschaute.
»Lassen Sie mich raten, Sie möchten mir sicher etwas mitteilen.«
Sarah nickte.
»Nichts Großartiges, aber ich freue mich darüber«, sagte sie.
»Na, dann mal los.« Wirklich neugierig klang Bierman allerdings nicht.
Sarah zog ihre Heckler&Koch aus dem Halfter und ließ sie mit dem Abzugsbügel an ihrem Zeigefinger baumeln.
»Aha, Sie haben den Schießtest bestanden und Ihre Waffe erhalten. Dann kann ich Ihnen mein Leben ja nun bedenkenlos anvertrauen.«
Ob diese Feststellung einen etwas spöttischen Unterton enthielt oder Bierman einfach ein wenig belustigt auf ihre kindliche Freude reagierte, konnte Sarah nicht entscheiden, dazu war ihr der Kollege einfach noch zu undurchsichtig. Als er aber gratulierte und jetzt sind wir ein vollwertiges Team hinzufügte, war sie sich sicher, dass er sie nicht hatte veräppeln wollen.
»Sechsunddreißig aus der vier mal zehn Serie. Zwei neuner, eine acht«, teilte Sarah ihr sehr respektables Ergebnis mit. »Und der schlechteste Schuss bei allen Übungen eine einzige sechs.«
»Nicht schlecht«, antwortete Bierman und Sarah ging an ihren Schreibtisch, auf dem immer noch zwei ungeöffnete Pappkartons standen.
»Ich sollte mich wohl so langsam mal häuslich einrichten«, stellte sie mit einem gespielt sorgenvollen Gesicht fest.
Gerade als sie die Pistole wieder in das Gürtelhalfter gesteckt und einen der beiden Kartons geöffnet hatte, klingelte das Telefon.
»Gröber«, nuschelte Bierman und das angewiderte Gesicht sprach Bände. Doch während des Gesprächs hörte er dem Ressortleiter aufmerksam zu und legte schwungvoll den Hörer auf.
»Das häusliche Einrichten muss warten. Wir treffen uns im Besprechungszimmer mit den anderen. Er will ein Kurzbriefing mit uns machen. Anscheinend hat es bei einem Unfall im Höllental einen Waffenfund gegeben.«
Sarah sah sich das Chaos auf ihrem Schreibtisch an, das sie so gerne in eine geordnete Arbeitsstätte überführt hätte. Nach eingehender Betrachtung der Gesamtsituation entschied sie, dass die Seite ihres Partners auch nicht besser aussah.
»Okay, dann lassen Sie uns gehen«, sagte sie, zog einen Collegeblock aus dem Durcheinander und steuerte wieder die Tür an. Bierman stand auf und folgte ihr zu dem Besprechungsraum, wo sich bereits der gleiche Kreis eingefunden hatte, wie bei ihrer Begrüßung zwei Tage zuvor.
»Ich möchte es ganz kurz halten«, kündigte Ressortleiter Gröber an, nachdem Sarah, Bierman und die Kollegen Polocek, Berner und Pfefferle am Konferenztisch Platz genommen hatten.
»Wie Sie vielleicht