»Weniger gefährlich auch?« Weniger gefährlich als »extrem gefährlich« hörte sich immer noch lebensgefährlich an. Adam hatte eine Heidenangst vor Radioaktivität. Am liebsten hätte er sofort drei bis vier bleiverstärkte Türen zwischen sich und die Strahlenquelle gebracht, die in einem hoch an der Decke angebrachten mächtigen Schwenkarm zu stecken schien. Dorthin nämlich war der Blick des Arztes gerade unwillkürlich gewandert.
Dr. Mertens mochte ahnen, was in dem Security-Steward vorging. »Wissen Sie, die meisten Laien haben völlig überzogene Vorstellungen von der Gefährlichkeit radioaktiver Substanzen.«
Na, die Mäuse wohl nicht, dachte Adam. Wahrscheinlich haben die gar keine Vorstellung von Radioaktivität, bis sie ihnen das Fell grillt.
Der Doc blickte erneut zur Decke. »Richtig, die Kobaltquelle ist dort oben, aber dicht verschlossen. Es gibt verschiedene Filter, beziehungsweise Stahlplatten mit entsprechenden Bohrungen. Theoretisch könnte ich damit tatsächlich auch Krebsgeschwülste bestrahlen. Auf dem Festland werden hierfür inzwischen oft Linearbeschleuniger verwendet, Kobalt kommt allmählich aus der Mode. Aber hier auf dem Schiff, mit all dem Ungeziefer aus den Laderäumen... Wir hatten schon Skorpione, Bananenspinnen, sogar einmal eine Klapperschlange... Kobalt hat sich als die effizienteste Methode erwiesen.«
»Ist das Zeug nicht ziemlich teuer?«
»Billiger, als den OP auf Deck drei zu verlegen, wo es garantiert mäusefrei wäre. Krankenhäuser sind auf Schiffen immer da, wo man beim besten Willen keine Passagiere mehr unterbringen kann. Und steriliseren müssten wir oben trotzdem auch.«
»Mäusefrei, sagen Sie... Und was war mit der Maus auf Deck acht, in der Kabine von dem Litauer?«
»Keine Ahnung. So weit hinauf kommen sie normalerweise nicht. Wozu auch? Hier unten ist das Futter für sie leichter zugänglich.«
Adam nahm sich vor, seine Mahlzeiten in der Personalmesse in Zukunft auf Bissspuren zu untersuchen. Angenagte Lebensmittel würden sie ja garantiert nicht den zahlenden Passagieren unterjubeln, wenn die Mäuse zu viel übrig gelassen hatten, um es einfach wegzukippen. Nachdenklich meinte er:
»Sie war seltsam, diese Maus: Wie ausgetrocknet oder innen hohl.« Seine Mutter hatte immer Katzen gehalten, die aus lauter Dankbarkeit für Kost und Logis ihre Beute ins Haus zu schleppen pflegten. Deshalb wusste Adam, wie sich eine tote Maus anzufühlen hatte. Auf jeden Fall schwerer und irgendwie wabbelig.
Der Doktor starrte ihn an, als wäre er nicht ganz bei Trost.
Kapitel 7
Irgendwo hinter Kap Hoorn war der Tod an Bord gekommen. Und es schien, als hätte er sich gerade erst warm gelaufen. Adam hatte zu seinem Leidwesen seinem Chef Edmund Sandtner bekennen müssen, dass es ihm nicht gelungen war, irgendwelche Verwandte der beiden so plötzlich Verblichenen ausfindig zu machen, obwohl er das Funktelefon und seine Ohren heiß telefoniert hatte. Darauf hatte der Chef ihm geraten, sich unter der Tischgesellschaft der Toten umzuhören. Soweit vorhanden, denn der Litauer hatte ja bekanntlich die Abgeschiedenheit des Steak-House vorgezogen.
Deshalb ging Adam dort nach Ende seiner Schicht einmal hin. Die meisten Tische waren besetzt, aber so spät am Abend rechnete der Maître nicht mehr mit Neuzugängen, deshalb nahm er sich Zeit für ein Schwätzchen.
»Ja, Adam, gönnst dir heut einmal was richtig Feines?«
Solang keine Mäuse dran gekommen waren... »Schön wär's, Luis, aber du weißt ja, ich muss sparen. Sicherheitsdienst kann man nur machen, solange in den Gelenken noch nicht der Kalk rieselt. Nein, eigentlich bin ich dienstlich hier. Wegen deinem Dauergast, der das Zeitliche gesegnet hat.«
»Das hat aber nicht an dem Essen hier gelegen, oder?«, verwahrte sich Luis in übertriebenem Entsetzen. Eigentlich hieß er Alois Baumgartner und stammte aus Memmingen, aber Luis, fand er, passte besser zu einem Luxusrestaurant.
»Eher nicht. Er hat sich mit seinen Medikamenten vertan. Marcumar-Patient.«
»Ach so, darum war das so ein Fleischfresser. Hat kein grünes Gemüse dürfen.«
»Das stimmt nicht direkt. In meiner Verwandtschaft hat auch jemand Marcumar nehmen müssen, und dem haben sie schon im Krankenhaus gesagt, wichtig ist, dass man immer ungefähr gleich viel Gemüse isst, weil sonst die Dosierung vom Gerinnungshemmer nicht mehr stimmt. - Mensch, kann sein, dass ihm das zum Verhängnis geworden ist! Zu wenig Gemüse, zu wenig Vitamin K, was ja der Gegenspieler vom Marcumar ist, und schon hat nichts mehr zusammengepasst.«
»Du bist ja selbst ein halber Doktor, Adam!«
»Der Patient war meine Oma. Die hat wahnsinnig gern über ihre Krankheiten geredet«, lachte Adam. »Und als hätt das nicht schon gereicht, hat sie auch noch zentnerweise Arztromane gelesen.«
»Ja, das kenn ich! Der Kiosk unten macht ein Mordsgeschäft damit. Aber wie kann ich dir jetzt helfen? Magst ein Schnäpsle?« Wenn er sich nicht schwer zusammenreißen musste, um passables Hochdeutsch zu sprechen, kam Luis' allgäuerisch-schwäbischer Akzent deutlich zum Vorschein.
»Lieber ein Glas Hauswein, falls ihr sowas Schnödes hier habt. Ich hab das Gefühl, ich brauch mein Hirn heute noch zum Denken. Ich muss irgendwie rauskriegen, wie ich seine Angehörigen erreiche.«
Luis kredenzte ihm das gewünschte Getränk und schlug vor: »Schieb's halt auf seine Botschaft ab, der Mann war Litauer.«
»Ja, schon, aber wenn die nicht tätig werden, bis wir wieder in Hamburg sind, fährt der Bursche bis zum Sanktnimmerleinstag in unserem Kühlschrank mit.«
»Tja, viel kann ich dir zu dem Mann nicht sagen. Er hat kaum was geredet, dabei war sein Deutsch viel besser als seine Tischmanieren. Wenn ich sag, Fleischfresser, ist das wörtlich gemeint. Geschlungen hat der wie ein Raubtier. Neureich, würd ich schätzen, Aufstieg von ganz unten. Wenn's Oligarchen auch in Litauen gibt, dann war das so einer.«
»Hat er Kontakt zu jemand anderem gehabt, hast du da was gesehen?«
»Bei mir hier nicht, aber danach ist er immer rüber in die ›American Bar‹ und hat ordentlich gebechert, das hat mir der Luc mal erzählt. Er ist schon aufgefallen, unser Litauer, weil er nämlich doch recht spendabel mit dem Trinkgeld gewesen ist, das muss man ihm lassen.«
Adam nuckelte noch eine Weile an seinem Soave, dann wechselte er hinüber in die besagte Bar und wartete, bis Luc frei war. Der Barkeeper, ausnahmsweise einer ohne Künstlernamen. Luc war Kanadier und hieß wirklich so. Die Leute vom Personal der »Symphony« kannten sich untereinander, mehr oder weniger halt. Manch einer war schon seit dem Stapellauf dabei. Was doch auch wieder für dieses seltsame Schiff sprach.
»Reicher Litauer«, sagte Adam zu Luc, als die Rockmusik aus den Lautsprechern gerade eine Pause einlegte. Sie spielten hier hauptsächlich Sachen aus den Sechziger und Achtziger Jahren. In den Siebzigern war Rockmusik ja von der Disco-Welle überschwappt und nahezu ertränkt worden. Irgendwann war auch der Seniorenclub an Bord einmal jung gewesen, also eben mit den Stones und den Beatles groß geworden. Und die Jüngeren mit Alan Parsons Project und Manfred Mann und Roxy Music und Europe.
»Blond, Bürstenschnitt, ungefähr meine Größe, doppelt so breit. Kennst du den?«
Neben Französisch und Englisch sprach Luc ausgezeichnet Deutsch und noch viele andere Sprachen jeweils ein bisschen.
»Einsamer Wolf?«
»Wieso Wolf?«
»Keine Ahnung. Er hatte etwas Raubtierhaftes an sich. - Es stimmt doch, dass er tot ist?«
»Mensch, die Buschtrommeln klappern aber schnell hier!«
»Die Buschtrommeln haben kürzlich eine Anfrage erhalten, betreffend einen trink- und spendierfreudigen russischen Bären, der sich auf einmal unsichtbar gemacht