Die Villa in der Oskarstraße. Ulrich Hermann Trolle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Hermann Trolle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738009644
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schon seit der Bahnfahrt. Ich rieche den klebrigen Schweiß. Fahnen hängen aus der Fassade des Wohnheims. Die DDR–Fahne sehe ich und eine rote. Fahnen sind immer im Wind, sie brauchen den Wind um zu blühen...

      Doch, die Szene hier erkenne ich wieder.

      Die kenne ich von ... ja, von dem Bewerbungsgespräch.

      Bin also hier schon mal vorbei, aber die klaren Bilder gibt es nicht. Habe nur nach oben geschaut, mich gefühlt wie ein Vogel. Ein Nestflüchter, zu früh, unbeholfen und hungrig. Und ein Großmaul im Stillen.

      Halt die Klappe!

      Konntest keinen besseren Zug ausgesucht haben, du Dussel.

      Fährst die Nacht hindurch, Station für Station über die Prärie, durch die Käffer und noch Umsteigen in Leipzig, anstatt in Halle den Schnellzug zu nehmen und durchzufahren...

      Schnellzug hat es für mich noch nie gegeben, immer Bummelzug, den ganzen Tag Bummelzug. Die ganze Fahrt Bummelzug. Reise im Bummelzug. Bummelzug ist bezahlbar.

      Ich belüge mich selber. Ich hatte die Studentenermäßigung für den Fahrschein vergessen, das war der einfache Grund.

      Kinderzimmerknabe, zerwühltes Bett.

      Das Fenster zu Hause blieb offen stehen - Mutter, machst du es zu, wenn ich weg bin? Mutter, Mama, hörst du mich?

      Wie sich das einbrennt und zurückholt.

      Am Siebzehnten gibt es Geld bei Mutter im Büro. Ich weiß noch immer nicht, wie viele Mark Gehalt sie im Monat nach Hause bringt. Geheimnisse gibt es!

      Vater trägt ein, zwei Hunderter im Portemonnaie. Wo hat er die Scheine nur her? Vater, du hättest die Scheine auch selber gemacht, wenn du gekonnt hättest. Wie er lacht, wenn ihn, es, niemand sieht.

      Niemand erkennt ihn.

      Du hättest gedruckt, im Keller, sage ich, und du hättest gefeixt. Und dir beim ersten Ausgeben doch in die Hosen geschissen. Vater.

      Hättest.

      Ich hätte besser trampen sollen die lange Strecke. Trotz der schweren Tasche. Rußschwarze Hände habe ich heute. Niemanden anfassen damit.

      ...Hunderter Scheine in Vaters Portemonnaie stimmt nicht, Zehnerscheine stimmt. Hunderter Scheine haben wir nicht zu Hause.

      Ich habe nachgeschaut, jeden Monat. Das Geld liegt im Büfett in der Haushaltskasse. Der Schlüssel steckt schräg. Die Bibel liegt über der Kasse und kippt auf dem angenieteten Griff mal nach rechts mal nach links. Ich habe nie das Geld angefasst. Nie welches gebraucht. Immer nur gezählt, wenn ich allein sein konnte und den Schwund geschätzt und das Haushaltbuch gelesen. Im Sommer mehr Ausgaben, als im Winter. Kohlen und viele verschwitzte Wäsche, Wasser zum Gießen, Most aus der Kelterei und Fahrkarten für den Zug. Im Winter mehr Geld für Fleischer und elektrisches Licht.

      Die Straße in Richtung

      Uni geht ganz allmählich bergan.

      Erst lange, lange eine Gerade, waagerecht und breit, als wollten sich die Gleise der Neigung sperren und sich nicht aufwärts biegen lassen.

      Bequemer alter Fußweg ist das hier. Die alte Kante ist übrig geblieben, nach dem Februar freigeschaufelt, wiederverwendet als neue Kante für die neue Straße. Geht sich gut darauf im Dunkeln, stelle ich mir vor.

      Und wieder Verse in meinem Kopf.

      Das Steinpflaster der neuen Straße wird nicht besungen.

      Die Laterne eher. Dem alten Trottoir will ich etwas widmen und dem wandernden Schatten an der Wand.

      Warmes Licht leuchtet hinter der Gardine.

      Ich:

      Hallen nachts die Schritte wider.

      Regennass, der Staub betäubt.

      Liebste, gib die Küsse her und lieber

      herze einen, der Dir hold.

      Einer von den beiden muss ich sein. Mal der eine, mal der andere bei ihr. Bei mir ist es unentschieden innen drinnen.

      Der Mangel an verbaler Klarheit schafft den Poeten.

      Es wird gestammelt. Dazwischen Aussenden von reizvollen Empfindungen. Seele und Gefühl in verbal gebündelter Verkürzung. Versformen für emotionale Codierungen. Die Lyrik ist eindeutig im Unklaren.

      Träume und Tränen für die Brust.

      Versinken ins unentdeckte Selbst.

      Im Hörsaal wirst du nichts schreiben können... Das ist eine Wiederholung!

      Zwei Brücken überqueren die Straße am Hauptbahnhof in Dresden.

      Es gibt in Dresden schwarzen Sandstein!

      Wer’s nicht glaubt, soll mit mir schauen: Schwarzen, fetten Sandstein.

      Die Brücken sind aus schwarzem, fettem Sandstein.

      Vier Stockwerke hatten die alten Häuser bis in den Winterfrost des Februars. Die alten Häuser sind weg. Vor den neuen Hausäusern gibt es Rasen.

      Der alte Weg und der neue Rasen.

      Der alte Mann und das Meer.

      Der junge Mann und die Stadt.

      Du erinnerst dich, plötzlich, mit dem einen Gedanken an einen Film, wie immer, plötzlich, aus heiterem Himmel an einen Film:

      Die blaue Blume.

      Frühlings Erwachen – kein Film.

      Der letzte Schuss.

      Ilja Morumez.

      Panzerkreuzer Potjemkin.

      Rot und Schwarz.

      Der Graf von Monte Christo.

      Der König vom Böhmerwald.

      Die Kinder des Käpt’n Grant.

      Das Zentraltheater Zuhause ist immer noch das Kino im Zuhause.

      Wenn du davor standest, bekamst du Gänsehaut und weiche Knie vor Angst, oder im Freien, beim Landfilm, vor Kälte.

      Kino, erste Reihe für zwanzig Pfennige.

      Du erinnerst Dich an die Nachmittage, samstags, vorm Fernseher.

      Sprich mir nach: Am Fuße der blauen Berge galoppiert Fury wiehernd zu Ben Cartwright auf die Ponderosa-Ranch in Schwarzweiß.

      Lässige Lassie läuft langsam mit der Windrose nach New York-New-York. Der Westsender ist ein Hetzsender.

      Die aktuelle Kamera.

      Aber alle gucken Westfernsehen. Alle haben eine 15 Zoll Scheibe.

      Blauhemd habe ich keines mehr.

      Bin nicht mehr in der FDJ, aus dem Alter bin ich raus. Ich will die FDJ loswerden. Bin nie ausgetreten. Keine Behörde, keine Kreisleitung hat meine Erklärung: Ich will nicht mehr in der FDJ sein.

      An die Bevölkerung der Stadt und an die umliegenden Gemeinden: Ich erkläre hiermit allen Menschen meinen Austritt. Schnippel die Schnappel die Scher’, der Meister Nadelöhr.

      Die Länder der Welt sind sich Feind. Sie haben keinen Friedensvertrag.

      Und ich habe kein Blauhemd mehr.

      Affereien. Wen interessiert das schon?

      Lieber jeden Abend die Tagesschau.

      Antenne gedreht. Sonntags das Programm des Westfernsehens aufgeschrieben. Am Sonntag, mitgeschrieben auf die letzte Seite im dicken Deutschheft, nach Werner Höfers Internationalem Frühschoppen, mit Bleistift.

      Höfer: Dicke Brille und dicke Stimme und glänzende Stirn. Journalisten um ihn herum mit Weinglas und Zigarette: Brennendes Thema: Braucht Frankreich die Atomwaffe? Sebastian Haffner saß da auch, oft sogar.