Die Villa in der Oskarstraße. Ulrich Hermann Trolle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Hermann Trolle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738009644
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Klub ist mehr als nur Kreisstadt, Landstraße, Marktplatz. Du Träumer, bist kaum hier angekommen. Schwarzes Meer!

      Bräuchte neue Schuhe dafür. Habe nur die mit der Ledersohle. Und Jesuslatschen und die grüne Kutte mit dem Kunstfell.

      ...„Bin ich dann hier richtig, oder ist der Weg falsch?“

      „Nich fals, lange laufen. Fährt Strasebahn.“

      „Danke.“

      Der kann auch kein richtich Deusch. Lehmhüttendeutsch.

      Ich bin schon mal hier gewesen. Vergessen, wie.

      Mein Kopf hat sich den Weg nicht gemerkt. Oder ich war überwältigt und sah nichts. Hypnotisiert war ich und ich bin blind gegangen, gezittert.

      Was man kennt oder was bekannt ist, wird wahrgenommen.

      In fremden Zeichen, in neuen Reden, in neuen Dingen findet man sich nicht zurecht, oder nur mangelhaft, irre Summe von Erinnerungslücken, für die Wiedererkennung unbenutzbar.

      Der Typ ist nicht geeignet. „Nicht geeignet“, lautete das Prädikat nach meiner ersten Bewerbung an der Hochschule in Weimar.

      Jetzt bin ich geeignet, jetzt, hier in Dresden.

      Wie viele Male brütete ich über dem Hochschulführer ohne hinein zu schauen. Ich wollte nicht auswählen, wollte dieses nicht, jenes schon, hatte Angst, verzagte, heulte, verbrannte ausgefüllte Bewerbungspapiere im Kanonenofen. Irrwege, vor dem Betreten selbiger wird gewarnt. Eltern haften für Kinder.

      Neue Angst, Ratlosigkeit in den Gesichtern der Alten.

      Dunstquellen, Hexenschweigen.

      Druckausgleichsregler für Lebewesen sind animierbar durch Kratzen auf der Bauchhaut und an den äußeren Geschlechtsteilen. Ein anhaltendes Mahlen der Kieferknochen (unter Vernachlässigung des Verlustes von Zahnschmelz) fördert die Ansammlung von Speichel bis zum Überlaufen und allmählichem Abtropfen auf die Bügelfalten. Der nachfolgende Übergang des Subjektes in einen lethargischen Zustand ggf. in den Zustand zunehmender Willenlosigkeit

      und (scheinbarer) Apathie führt zu einer kathartisch wirkenden Entfernung aller Flausen und einer mentalen Nullstellung mit hohen Erfolgschancen für einen Neustart. Spezielle Abweichungen von diesem verbreiteten Phänomen sind noch nicht untersucht worden.

      Mein Tagebuch führt auf die Spur: „...entspricht hinauf, noch nicht gezeichnet der Druck aber, nach gegangenbegangenem Weg und bei einem kam ich ans Ziel, mit Achtzehn.“

      Faktensicher und wahr ist mein Anfang gewesen:

      „Ich schrieb mich 1965 in eine Fakultät ein, die relativ neu an der Universität in Dresden eingerichtet worden war und meines Wissens nach eine kurze Zeit die einzige ihrer Art in der Hochschullandschaft blieb. Ein Jahr zuvor, noch in der Abiturprüfungszeit, hatte mir in einem dünnen Brief das Prorektorat für Studienangelegenheiten der TU Dresden auf meine Bewerbung hin mitgeteilt, ich könne das elf Semester dauernde Studium der Ingenieurökonomie an der gleichnamigen Fakultät, Fachrichtung Bauwesen, im Herbstsemester 1965 aufnehmen einschließlich eines sechsmonatigen Praktikums im BMK Chemie Halle, konkret auf deren Baustelle im VEB Chemische Werke Buna. Als Voraussetzung sollte ich eine abgeschlossene Lehre in einem Bauberuf vorlegen und meine dadurch eventuell erlangte Reife in einem Prüfungsgespräch an der Dresdner Fakultät belegen.

      Ich hielt das Schreiben bereits für die Immatrikulation. Und aus einer kurz greifenden Sicht bis zum elterlichen Gartenzaun heraus kalkulierte ich, damit eventuell um die Wehrpflichtzeit herum zu kommen, weil ich nach dem Studium vielleicht als zu alt gelten und aus der Rekrutierungsstatistik fallen würde.

      Die Wendung: ich schrieb mich (...) ein, ist eine von mir gewollte Anhebung eines nüchternen Registrierungsvorganges. Der Schönheit und Einmaligkeit des bürokratischen Aktes wegen, seiner Hochstimmung erzeugenden Wirkung wegen und der immer wieder in älteren Büchern gelesenen anhebenden Textpassagen, diese oder jene Person hätte sich in eine Fakultät eingeschrieben, habe ich den Euphemismus mit Schmunzeln aufgenommen, ohne Scham mit einer stillen immer noch anhaltenden Freude. Freude empfand ich bereits während des besagten Eignungsgespräches im für mich unerwartet imposanten Schumann-Bau der Universität (in meiner Heimatstadt gab es zu der Zeit keine dominierenden Gebäude mit mehr als drei Etagen). Ich wurde in einen freundlich wirkenden, sehr hellhörigen Raum mit gerahmten gläsernen dünnen Türen und ständig eindringenden Geräuschen aus der Flurebene der fünften Etage beordert. Die mir gewaltig vorkommenden dicken Wände, die meiner Erinnerung nach an den Türleibungen abgerundet waren oder immer noch sind, denn das Gebäude existiert mit steinerner Würde weiterhin, passten nicht zu den schmalen Türchen. Aber der Gesamteindruck des Baues und seines mir noch nie vor Augen gewesenen Innenlebens, wie Rotunde, breite nicht knarrende Treppenaufgänge, die hie und da auf den weiten Etagenfluren protzenden eckigen plüschbespannten Sessel (ich wollte den Bauhausstil an ihnen erkennen), hielten mich im Bann und versagten mir den lockeren Blick auf anderes. Erst später erfuhr ich, in einem ehemaligen und umgerüsteten Gefängnis zum Gespräch gewesen zu sein.

      Zwei promovierte Herren im Anzug und gelassen in ihrer Haltung baten mich ins Zimmer mit Fenstern, die einen satten Blick auf voll belaubte Bäume erlaubten. Sie redeten mehr als ich. Ihre Fragen und meine Antworten weiß ich nicht mehr. Ich habe aber den Eindruck behalten, die Herren fühlten sich in ihrer Rolle wohl und gaben mir in dem Maße ihrer zunehmenden Sprechmenge das Gefühl, aus dem Raum kommst du als Student in spe heraus. Die beiden honorierten zu meiner Überraschung mit wohlwollenden Worten eine kleine Broschüre in meinen unruhigen Händen über die Fünfte Baukonferenz der DDR (die Idee, die Broschüre vorzuzeigen, kam von dem in der direkten Nachbarschaft lebenden, wortkargen aber freundlichen Lehrmeister Otto Erl aus dem vaterstädtischen Bauunternehmen, der mich während meiner Lehrzeit von Ferne beobachtete und wusste, dass ich das Aufnahmegespräch in Dresden vorbereitete. Er reichte mir die Broschüre am Vorabend meiner Hinreise durchs Küchenfenster, lachte dabei und wünschte mir Erfolg. Seine Zähne waren schadhaft. Das sah ich dabei das erste Mal.)

      Ich wunderte mich im Stillen. Was sollte an der roten Broschüre von Bedeutung und förderlich sein? Ich hatte gesellschaftliche Ereignisse wie Industriezweig-Konferenzen, Plenen des ZK der SED oder gar ihre Parteitage nie ernst genommen geschweige denn, deren Verkündigungen mit Verstand gelesen. Zu Inhalt und Ziel der Baukonferenz wäre mir kein Wort gelungen, vielleicht ein paar peinliche politische Phrasen wie in der EOS-Zeit im Deutschaufsatz. Aber wäre mein Phrasendreschen peinlich gewesen, wenn die Phrasen in die richtige Richtung geklungen hätten? Was hatte mich eigentlich gelenkt, die Broschüre während des Gesprächs in die Hand zu nehmen? Vielleicht war es der weise Rat von Otto Erl gewesen. Ich habe es vergessen.

      Den Herren muss es imponiert haben, dass ich Grünschnabel mit einer aktuellen politischen Broschüre angerückt kam und die dauernd in meinen Händen zu einer Röhre drehte, wie eine Drohung, sogleich spontan und eilfertig über die Konferenz zu posaunen, worauf die beiden keinerlei Lust gehabt haben dürften, weil auch sie vielleicht nicht über allgemeine Bemerkungen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität und intensiveren Auslastung der Produktionsmittel hinweg gekommen wären. Doch halte ein, sagt mein Gedächtnis, einer von den beiden, derjenige, der mir vom Habitus auch wie ein wirklicher Wissenschaftler und Hochschullehrer vorkam, wusste zu sagen, um welche Prozentzahl die Auslastung der produktiven Baumaschinen im Planungszeitraum erhöht werden sollte. Ich glaube aber, dass den beiden, vielleicht meine kräftigen und zupackend wirkenden Hände für den zukünftigen Planungszeitraum entscheidender als die Broschüre erschienen, um die nächste Erhöhung der Planziele zu erreichen. Zu meinem akzeptabel gelungenen Berufszeugnis nebst gutem Abitur sagten sie nichts Wesentliches. Sie überzeugte wohl mein gesamtes Auftreten - ein durchaus zutreffendes Wort für den Ablauf des Gesprächsereignisses von Begrüßung bis Verabschiedung, aber nicht dafür, dass ich die ganze Zeit nervös auf dem flachen Stuhl saß – und vermittelte genug Sicherheit, den Besetzungsplan des Studienganges mit einem wahrscheinlich erfolgreichen Studenten personell aufzufüllen. Schwärmend und voller Einbildung muss ich noch hinzudichten, dass auch der hoffnungsfrohe Blick meiner Augen ihnen gesagt haben könnte, den Jungen dürfen wir nicht enttäuschen und auf keinen Fall zurück in die Provinz schicken...“ Hier ist das Ende des langen Zitats erreicht.