Die Villa in der Oskarstraße. Ulrich Hermann Trolle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Hermann Trolle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738009644
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ziehen zu sollen, und haut gegen die Gehirne der ostdeutschen Schreiber, diktiert denen, was ihm verständlich, sendet eine vorweihnachtliche Order:

      „In unserer Periode der Entwicklung der Menschen und ihres Schaffens am umfassenden Aufbau des Sozialismus steht der Schriftsteller vor vielen menschlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Problemen, deren Lösung nicht einfach auf dem Tisch liegt (...) Der Schriftsteller kann nur vom Standpunkt der sozialistischen und wissenschaftlich-technischen Perspektive Kunstwerke von nationaler Bedeutung schaffen...“ (ebenda)

      Vielleicht keuche ich deswegen auf einer so breiten Straße in Dresden zur Uni. Die Koordinaten auf dem Globus: Technische Universität Dresden, 13,74° östlicher Länge von Greenwich und 51,05° nördlicher Breite. Das ist schon mal eine wissenschaftlich-technische Perspektive.

      Hat er Recht der Walter Ulbricht... und weist mir die richtigen Koordinaten? Der Ulbricht würde sicher auch Grenzen mit einem Lineal ziehen, glaube ich. Grenzen auf der Landkarte, wie ein Seil für Artisten, wie der Zar Peter I., wie die Grenze zwischen Kanada und den USA, zwischen Algerien und Mali, zwischen, zwischen, zwischen...

      Zwischen meiner Unterwäsche liegt in der Reisetasche die aktuelle Ausgabe der NDL. Inhaltsverzeichnis:

      Das 11. Plenum und die Literatur (W. Ulbricht, H. Sakowski, M. Zimmering)

      Über die Funktion des Kunstwerks und seine Theorie (H. Redecker)

      Rentiere in Not (H. Friedrich)

      Unser Auschwitz (M. Walser)

      Gedichte (E. Strittmatter)

      Die Berliner Antigone (R. Hochhuth)

      Neue Namen

      Neue Bücher

      Umschau

      Nachtlektüre im Nachtzug nach Dresden.

      Was will ich lesen?

      Ab Halle eine Tafel Schokolade. Die Rentiere habe ich schlafen lassen. Bei Walser aufgemerkt, wegen des Namens, endlich, wieder, einer aus dem Westen. Den Hochhuth und sein Stück haben auch die Zeugen Jehovas diskutiert, den Stellvertreter, das Theaterstück. Ich war nicht dabei. In den Händen gehalten habe ich ihn und im Fernsehen gesehen. Ost- oder Westfernsehen, wer weiß, ist eher Ostfernsehen möglich. Wieso eigentlich? Katholische Frage.

      Zimmering geht Kollegen ans Zeug: Biermann, Heym, Bräuning.

      Kafka und Joyce fallen wieder durch, so nebenbei und wie selbstverständlich. Wer hat denn Kafka und Joyce lesen dürfen außer Zimmering & Co? Eine Meinung kann ich also nicht haben, ein Urteil ist mir fern. Die Texte derer sind dem Sterblichen zugriffsfern.

      Kriege ich die Texte irgendwo woher?

      Was fern ist, soll ich ablehnen? Ich soll glauben.

      Bin ich in der Kirche oder im Sozialismus?

      Wahrheit ist konkret. Konkretes ist zum Anfassen.

      Für die Sinne: Fühlen, Schmecken, Riechen, Sehen, Hören.

      Für die höheren Sinne: Lesen, Verstehen, Urteilen, Erörtern, Schreiben.

      Ich will schreiben.

      Das schmale NDL-Heft, schweres Papier mit Fotos und Bildern addiert das Gewicht meiner Reisetasche um 200 g auf 8 Kg an einer Hand, seit gestern Nacht.

      Die NDL erscheint monatlich. Preis des Einzelheftes 2,50 MDN, Mark der Deutschen Notenbank.

      Auslieferungsstellen in Westberlin und Westdeutschland: KAWE Kommissionsbuchhandlung GmbH, 01 Berlin 12, Hardenbergplatz 13; Kommissionsbuchhandlung Ernst Globig, 01 Berlin 30, Nollendorfstraße 11/12; Kunst und Wissen, Inh. E. Bieber, 07 Stuttgart 1, Postfach 46; Santa Vanasia GmbH Köln, Kubon & Sagner, Furth im Wald; München; Hanau; Hamburg; Außerhalb: Moskau; Peking; Warschau; Prag; Budapest; Bukarest; Sofia; Tirana; Wien; Zürich; Amsterdam; Paris; Kopenhagen; London; Rom; Mysore; Toronto. Interessenten wenden sich an die „Deutsche Buch-Export und –Import GmbH“, 701 Leipzig, Schließfach 276...

      Ich sitze immer noch, Brigitte ist schon gegangen.

      Ich habe eine Scheibe trockenen Brotes in der Linken, ein Papierblatt auf der Tischplatte und schreibe mit der Rechten.

      „Der hat einen Knall“, denke ich, wird jetzt einer sagen von den Müden in der Mitropa. Und: „Verkappter Student mit Hornbrille.“

      „...die dünne Luft der Belletristik, das Universum breitete sich zu meinen Füßen, und jedes Ding begehrte demütig einen Namen...“

      „...ich habe die Unordnung meiner Erfahrung mit Büchern verwechselt...“

      Jean-Paul Sartre. Der rauchende Philosoph, Schielauge, ich sehe was, was du nicht siehst. Was du siehst, kann ich nicht sehen. Was du, kann ich. Ich schreibe wie du, Jean-Paul, mein werdendes Ich.

      Klebestreifen gehören immer auf die Innenseite des Buchumschlages, dann reißt der Umschlag der Wörter existentiell nicht ein. „Die Wörter“, Aufbau Verlag Berlin und Weimar, 1965, Lizenz vom Verlag Rowohlt, mir verkauft, ich gekauft bei Alban Hess, St.- Michael-Buchhandlung, in Sangerhausen, auf dem Heimweg von der Schule. Eines jener Bücher von meinen ersten eigenen gewünschten Büchern.

      Der Sartre ist ins Eingehauste eingedrungen.

      Er hat es gemacht.

      Wo muss ich jetzt eigentlich hin mit der schweren Tasche und mit mir?

      Die Vernunft flüstert mir dauernd meine Existenz ins Ohr.

      Eine Existenz der Vernunft. Die eigentliche Existenz habe ich umgehen müssen. Ich habe sie nur geträumt.

      Und ich bin aufgewacht und fand mich nüchtern und voller Erwartung und habe mich für Dresden entschieden.

      Meine Rechnung bezahlen, die Tasche aufheben, die Mitropa verlassen.

      Es ist 8:30 Uhr und ich laufe nun auf einer breiten leeren Straße.

      Die Koordinaten meiner inneren Richtung habe ich vergraben.

      Die Koordinaten für die Uni in Dresden stehen im Einweisungsbrief.

      Hier hab ich den Brief, herauszerren, zerknitterter Fetzen, hier steht es doch geschrieben, mit Maschine getippt.

      Die wievielte Kopie mag das sein, die Einhundertste, Zweihundertste, Dreihundertstetetetete?

      Dreihundert immatrikulierte Studenten für das Studienjahr?

      Gestern habe ich es schon mal gelesen... und wieder vergessen.

      Gestern gibt es nicht mehr.

      Es ist abgelaufen, Geschichte.

      Das hört sich gut an. Ich fühle mich auch gut.

      Vergesse ich das alte Zeitalter oder lasse ich es für später liegen?

      Lauter Krümel in der Tasche und ein verrotztes Taschentuch vom Vater.

      Meine eigenen liegen unberührt und verpackt seit dem 14. Geburtstag im Schrank. Jugendweihegeschenke von der Nachbarsfamilie.

      Was steht da auf dem Papier?

      Dieser blöde Umschlag: 10 Uhr Anmeldung.

      Was das nun wieder ist. Überall Anmeldung. Mommsenstraße.

      Wo ist die Mommsenstraße?

      Ich will in diese Stadt und weiß doch nicht wohin.

      „Wo ist die Mommsenstraße, hallo, können Sie mir sagen, wo ich die Mommsenstraße finde?“ (Als hätte ich diese Straße verloren)

      „An der Uni, dort oben.“

      Ein dunkler Mohr aus Afrika... Aus den Lehmhütten, vom Baum gesprungener. Zehn kleine Negerlein...

      Ach ja, Prag, internationaler Studentenclub. Soll ich machen, mich anmelden, sagt mir ein schlauer Prahlhans, weiß nicht mehr wer. Hab’s gemacht: !967, Identity card number 91404. Jährliche Gebühr 10 Tschechische Kronen.

      Eintreten,