Ich fresse, wie die Trunkenbolde, die mittags schon in den Straßen liegen, saufen. Es ist nicht so, dass mir das nicht schon vor einigen Jahren klar geworden ist. Bis ich dreißig war, ging das alles noch, weil ich essen konnte, was ich wollte, ohne richtig fett zu werden. Und wohl auch, weil ich mich um nichts kümmern musste.
Versteh mich nicht falsch, ich liebe es, mich um Falkehaven zu kümmern. Aber je mehr Verantwortung ich übernommen habe, umso mehr habe ich gefressen. Und mittlerweile, naja, du siehst ja, wie ich aussehe. Den ästhetischen Aspekt einmal außen vorgelassen, wird das Ganze langsam zum Problem. Auch wenn Sikah mein Fett nicht zu stören scheint. Sie hat vor ein paar Jahren gemeint, ich sollte mir keine Sorgen machen, und das es sicher schon dickere Jarle als mich gegeben hätte. Inzwischen wäre sie mit so einer Aussage vermutlich etwas vorsichtiger.
Aber wie dem auch sein, ich will die Verachtung, die ich in den Blicken meines hochgeschätzten Schwagers sehe, nicht auch in den Augen anderer Männer sehen. Und wenn ich so weitermache, wird das nicht mehr lange dauern. Selbst in Falkehaven nicht, wo man mich höher schätzt und respektiert als irgendwo sonst.
Dieser Tage, wo Nahrung noch immer vielerorts knapp ist, ist ein fetter Mann gleich doppelt verachtungswürdig. Wenn ich dieses Zeichen von Schwäche weiter mit mir herumschleppe, bin ich selbst schuld. Außerdem gehe ich langsam auf die vierzig zu, was das Ganze nicht besser macht. Ich will nicht als Alfr der Fette in fünf Jahren tot umfallen, weil mir das Herz platzt wie bei einer übermästeten Sau.«
Varg bemerkte, wie Alfr bei den letzten Worten noch blasser geworden war, als er ohnehin schon war. Er konnte sich nur allzu gut in den Mann hineinversetzen. Scham ob der Schwäche paarte sich mit Angst vor einem elendigen, ehrlosen Tod zu einem Gefühl der Leere und Hoffnungslosigkeit. Er selbst war etwa ein Jahr nach dem Tod seiner Lifa an einem ähnlichen Punkt angelangt.
»Ich erzähle dir das nur«, fuhr Alfr seufzend fort, »damit du weißt, dass ich keineswegs die Augen vor meiner Situation verschließe. Und außerdem, weil ich glaube, dass du es am ehesten verstehst. Ich weiß nicht, wie ich es angehen soll, aber ich bin mir der Tatsache bewusst, dass ich bald etwas tun muss. Spätestens nächstes Jahr.
Vielleicht ist das Essen bei Hof ja so beschissen, dass ich schon ein paar Pfund verloren habe, wenn wir die Rückreise antreten.«
Varg erwiderte sein sardonisches Grinsen, schüttelte aber leicht den Kopf.
»Da muss ich dich, fürchte ich, enttäuschen. Das Essen ist für gewöhnlich exquisit. Aber falls es dich aufmuntert, die Gesellschaft bei Tisch wiederum ist dem Verderben des Appetits zumeist überaus förderlich.«
Der Jarl legte dem jüngeren Mann die Hand auf die Schulter.
»Vielleicht hilft es dir ja schon ein wenig, dass auf unserer Reise nicht überall ständig etwas zu Essen herumliegt. Die Fahrt, aus deiner gewohnten Umgebung herauszukommen, sollte dich nach einer Weile auch ein wenig entspannen. Für die Zeit, bis wir bei Hof angekommen sind, haben sich Verantwortung und Stress für dich zumindest erledigt. Und wenn wir uns erst einmal dort befinden, besteht die größte Herausforderung meist auch nur darin, zu nicken und zu lächeln, ohne dem Geschwätz allzu viel Bedeutung beizumessen.«
»Ich sehe schon, wir nehmen unsere repräsentative Aufgabe überaus ernst«, gab Alfr zurück. »Nun, ich bin jedenfalls wirklich froh, dass Sikah mitkommen konnte. Die Reise scheint ihr gut zu tun und so fühlt sich das Ganze nicht gar so sehr nach verschwendeter Zeit an.«
»Wie geht es ihr?«, wollte Varg wissen, »allgemein, meine ich, nicht im Moment. Dein Vater sagt immer nur, dass sie kränkelt, aber das kann verdammt alles heißen. Wir müssen nicht darüber sprechen, wenn du nicht willst. Aber ich weiß, dass ihr seit Jahren Kinder wollt und ... bei meiner Lifa hat es damals ja auch länger gedauert.«
Alfr sah auf und lächelte den Jarl an. Es rührte ihn, dass die Jahre und unzählige Fässer von Bier, Met und Wein den Schmerz des sonst so harten Mannes noch immer nicht völlig fortgewaschen hatten.
»Viel mehr als das kann ich dir auch nicht sagen, Varg. Sie hat seit jeher kurze Phasen gehabt, in denen sie sich schwach fühlt, das fing an, als sie zwölf oder dreizehn Winter gezählt hat. Sie ist dann kraftlos, wird von Schwindel geplagt und kann kein Essen bei sich behalten. Von diesen Dingen hat sie sich, als sie jünger war, schnell erholt. Das hat immer ein paar Tage gedauert und danach war alles wieder in Ordnung. Ich meine, sie war nie das, was man einen Wildfang nennen würde, so wie meine ältere Schwester einer ist. Aber mit der Zeit sind die schlechten Phasen öfter gekommen und länger geblieben.
Seit ein paar Jahren, vielleicht drei oder vier, kenne ich sie eigentlich nur kränklich. Wenn ich recht darüber nachdenke, sind es jetzt die guten Tage, die kommen und gehen, und nicht umgekehrt. Sie schläft zu viel und isst zu wenig und sie ist meist viel zu schwach.«
Er zuckte mit den Schultern und seufzte Tief, ein Laut voller Hilflosigkeit und Resignation.
»Ich nehme an, was uns an Heilern und Kräuterfrauen zur Verfügung steht, habt ihr schon ausprobiert?«, fragte Varg.
»Ja, immer mal wieder. Aber du weißt ja, wie das ist. Ein Leiden mit einem Dutzend Symptomen, das bedeutet meist hundert Heilmittel und Medizinen, die allesamt nichts taugen. So ist es auch hier. Im Grunde weiß niemand, was ihr eigentlich fehlt.«
»Den Vorschlag, einen der höheren Priester aufzusuchen, wenn wir schon im Zentrum der Macht der Kirche sind, kann ich mir vermutlich sparen«, meinte Varg. Der Blick, den der Mann ihm halb amüsiert zuwarf, war beredt genug und der Jarl nickte. »Nun, vielleicht kann Darane sie sich auf der Reise mal anschauen. Er ist kein Heiler, aber ein fähigerer Magier als die Bande auf dem Festland, möchte ich meinen.
Und falls ihr das nicht möchtet, können vielleicht unsere neuen Verbündeten helfen. Die Druiden der Vannbarn sind laut dem Zauberer nicht so mächtig, wie die unseren es vor dem Krieg waren, aber einen Versuch ist es allemal wert, denke ich.«
»Du traust diesem dunklen Mann«, Alfr machte eine Kopfbewegung in Richtung der Kabinen, wo Darane sich irgendwo aufhalten musste, »wirklich sehr, nicht wahr?«
»Ja, das tue ich«, erwiderte Varg. »Ich weiß, dass ich damit so ziemlich allein stehe.« Er zuckte mit den Schultern.
»Ich verstehe«, murmelte Alfr und hob dann wieder den Kopf. »Ich weiß nicht so recht, was Darane angeht, aber ich werde mit Sikah darüber sprechen.
Auf jeden Fall danke ich dir. Ich persönlich wäre wirklich froh, wenn wir irgendwann im Laufe des Jahres die Möglichkeit hätten, Sikah mit einem Druiden zusammenzubringen. Deine neuen Vasallen mögen einer anderen Kultur angehören und uns fremd erscheinen, aber das Druidentum ist tief im Herzen unseres Volkes verwurzelt. Wenn ihr etwas helfen kann, dann diese alte Kraft.«
Varg nickte und klopfte ihm auf die Schulter. »Dann werden wir uns darum kümmern, sobald wir wieder zu Hause sind.«
Die zwei Männer standen noch lange schweigend an der Reling. Der Anblick des zerwühlten, dunklen Meeres, das unter dem stahlgrauen Himmel dahinrollte, tat ihrer beider Gemüter gut.
Alfr spürte, wie dieses Gespräch viel von der Anspannung von ihm genommen hatte, die er dieser Tage mit sich herumtrug. Er zweifelte nicht daran, dass sie sich bald wieder aufbauen würde, dafür würden seine Grübeleien schon sorgen. Aber es war gut, über Dinge sprechen zu können, mit denen er sich sonst niemandem anvertraute. Seinen Vater und Sikah wollte er nicht mit seinen Ängsten und Problemen belasten. Engere Vertraute hatte er nie gehabt, wie so viele Kinder von hoher Geburt.
Er war froh, dass der Jarl von Ulfrskógr, seit Jahren der Mensch, der seinem Vater am nächsten stand, auch ihm in Freundschaft verbunden war.
Alfr ahnte nicht, dass er sich in Kürze an jeden Trost klammern würde, der ihm geblieben war. So behielt er diese Reise an der Seite seiner Gemahlin als eine schöne, unbeschwerte Zeit in Erinnerung.