»Worauf du dich verlassen kannst, Severin«, erwiderte der Landmeister und klopfte seinem alten Weggefährten auf die Schulter. »Und keine Sorge wegen meines Appetits, der wird ungebrochen sein.«
Nachdem Jarek Zdravko kurz darauf gegangen war, begab der Hochmeister sich an seinen Schreibtisch. Es war ein gewaltiges altes Ding aus Rotholz, das im südwestlichen Teil des Kommandoraums in einer künstlichen Ecke aus zwei Bücherregalen stand.
In Kürze würde Gregor hier sein, der fünfundzwanzigjährige Sekretär, der ihm seit knapp zwei Jahren zur Hand ging. Severin hatte mit zunehmendem Alter immer länger für seine Schreibarbeit gebraucht, und sich schließlich für diese ihm ohnehin lästige Arbeit eine Hilfe besorgt. Seine Rechte ruhte einen Moment lang auf dem Bericht aus Haquadelaor, den er seinem alten Freund gegenüber nicht erwähnt hatte. Er handelte von dem Überfall auf Umbrahope, wo nur mit Mühe eine aus dem Nichts kommende Invasion von wilden Stämmen zurückgeschlagen worden war. Die Angelegenheit war für den Landmeister der Ostmark bedeutungslos. Zumal er ohnehin den größten Teil des verbleibenden Jahres in der Tundra verbringen würde. Severin grübelte einen Moment über die Folgen, die der Verlust der Handelsmetropole auf dem Südkontinent für das Reich haben konnte. Schließlich richtete er sich in seinem Stuhl auf und streckte sich. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Sein störrischer Geist hatte sich, wie so oft, wieder einmal an Aden von Hainesruh, dem Landmeister der Königsmark verhakt.
Er erinnerte sich noch genau daran, wie er den Mann vor über zehn Jahren kennengelernt hatte. Er war ein Angehöriger des Landadels aus der im Nordwesten gelegenen Grafschaft Greifenwalde. Über seine Jugend war kaum etwas bekannt. Man wusste nur, dass er im Alter von vierzehn Jahren die Baronie seines Vaters geerbt hatte. Aus einem Geschlecht entstammend, das für seine Frömmigkeit bekannt war, traf der junge Baron an seinem sechzehnten Geburtstag eine aufsehen erregende Entscheidung.
Er trat, kinderlos und ledig, dem Orden bei und überantwortete diesem sein Lehen. Damit verzichtete er auf Titel und Land ebenso, wie auf das Fortführen seines Geschlechts. Es kam durchaus vor, dass ein Graf der Kirche oder dem Orden das eine oder andere bescheidene, eher unbedeutende Lehen spendete. Um ein solches handelte es sich im Falle von Hainesruh denn auch zweifellos. Mit dem alten Landsitz, drei kleinen Dörfern und zwei Waldstücken war es wenig bemerkenswert. Dennoch war die Tatsache, dass ein Baron von sich aus all seinen Besitz und seine Privilegien aufgab, um sich der Religion zu überantworten, ein einmaliges Ereignis gewesen.
Die Gerüchte um die wahren Beweggründe des jungen Barons, die von Schwachsinn bis zu heimlicher Knabenliebe gereicht hatten, waren bald verstummt. In nur wenigen Jahren erarbeitete sich Aden von Hainesruh einen Ruf als frommer, zielstrebiger und fähiger Bruder. Als er vor zwölf Jahren nach Sigholm und Wachtstein gekommen war, hatte er gerade dreiundzwanzig Winter gezählt. Anfangs war auch Severin von dem jungen Mann beeindruckt gewesen.
Aden war hochgewachsen, noch ein paar fingerbreit größer als er selbst. Dazu hatte er die Statur eines Kriegers und markante, attraktive Züge. Der alte Hochmeister hatte sofort den Stolz in dem Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der geraden, schmalen Nase erkannt. Aber da war auch eine stechende Aufmerksamkeit und Intelligenz in den smaragdgrünen Augen des jungen Mannes. In den folgenden Jahren bestätigte der hünenhafte Bruder mit der blassen Haut und den feuerfarbenen Haaren den ersten Eindruck des Hochmeisters ebenso, wie seinen guten Leumund.
Severin hatte im Grunde nur darauf gewartet, dass es früher oder später zu Problemen kommen würde. Er hatte im Laufe seiner Zeit im Orden viele junge und fähige Brüder wie Aden kennengelernt. Oft waren es die Söhne von niederen Adligen, wohlhabenden Händlern oder anderen einflussreichen Familien. Mit anderen Worten, erfolgsverwöhnte Kinder aus privilegiertem Hause. Früher oder später eckten diese Männer mit ihrer Einstellung und ihrem Verhalten im Orden an. Sie stolperten über ihre Überheblichkeit, ihren Ehrgeiz oder einfach über den Stolz, den ihr Stand in der Welt außerhalb der Gemeinschaft der Templer sie gelehrt hatte. Überhaupt kamen vielerlei Makel und ernste charakterliche Missbildungen in dem weltabgewandten Umfeld des Ordens schneller ans Tageslicht, als sie es in der freien Gesellschaft zu tun pflegten. Sei es die Feigheit vor einem Kampf, die Angst vor einer Prüfung, Knabenliebe und zahlreiche weitere Schwächen und Abnormitäten der Persönlichkeit. Dinge, die ein Mann unter weniger isolierten Umständen oft für viele Jahre vor anderen verborgen halten konnte. Nicht selten sogar vor sich selbst. Ab und an fand man dann so schwer gestörte Seelen wie im Falle von Dunstan. Wenn diese Männer vollständig erfasst hatten, dass sie den Rest ihres Lebens im Orden verbleiben würden, brachen sie für gewöhnlich früher oder später zusammen. Die Stolzen wie die Kranken gleichermaßen. Was Aden von Hainesruh anging, so irrte Severin sich jedoch in seiner Einschätzung.
Es gab nie eine Beschwerde über den jungen Mann, keine Gerüchte ob verdächtiger Ausflüge in die Stadt oder die umliegenden Dörfer. Kein Streit mit anderen Brüdern, keine gar zu ausufernden Saufgelage, keine zerschlagenen Tavernen. Obwohl eine latente Arroganz von seiner Person ausging, schien er die Menschen, mit denen er verkehrte, ganz natürlich für sich einzunehmen. Seine leicht herablassende Art überspielte er mit einer vorzüglichen Höflichkeit. Er war aufmerksam, gebildet und befleißigte sich nicht zuletzt eines Humors, den er seinem jeweiligen Umfeld anzupassen verstand. Fein und geistreich bei Hof, gröber und zotiger im Kreise der Brüder.
Nicht zum ersten Mal fragte sich Severin, ob er nicht doch, in einem Winkel seines Unterbewusstseins, eifersüchtig auf den Ordensbruder war. Er missgönnte weder von Hainesruh noch einem anderen Mann seinen Erfolg oder Rang. Der Hochmeister war dem Orden als junger Mann aus eigenem Antrieb beigetreten. Er hatte seinen Platz im Leben immer im Dienste des Lichtbringers gesehen. Und in dem des Schwertes, denn bei Gott, ein Krieger war er. Die Unzufriedenheit und der Selbstzweifel, die bei einem Mann zu Neid und Missgunst führten, waren ihm stets fremd gewesen. Doch er war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass er immer ein grobschlächtiger alter Haudegen sein würde. Ob bei Hof oder in den Kreisen der Kirche. Er war im Grunde ein Mann aus dem Volk, der sich mit Kraft, Beharrlichkeit und einem wachen Kopf den Weg an die Spitze des Ordens erkämpft hatte. Das adelsverheißende »de« in seinem Namen war im Grunde ein Witz. Die Baronie Contaut war ein kleines Landgut mit zwei Dörfern im Nirgendwo der nördlichen Westmark. Vermutlich hatte sein nichtsnutziger Bruder den bescheidenen Besitz in den zwanzig Jahren, in denen sie keinen Kontakt mehr pflegten, längst versoffen.
Es stand außer Frage, dass der junge Landmeister von Stennward einen ungleich leichteren Stand hatte, als es damals bei Severin der Fall gewesen war. Für ihn war seine Korrespondenz mit dem Hof stets nur ein notwendiges Übel. Ohne seine Freundschaft zu Kardinal von Grünesfelde sähe es in den Belangen der Kirche kaum anders aus. Von Hainesruh hingegen bewegte sich auf jedem Parkett gleichermaßen sicher und mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit.
»Aber du bist kein missgünstiger alter Mann, und das weißt du auch ganz genau«, murmelte er kaum hörbar. Wenn er in dieser Art dachte, halblaut und versunken, hörte er in seinem Kopf die ruhige, raue Stimme seines längst verstorbenen Vaters. Eines Mannes, der über die Weisheit und das Wissen eines Bischofs verfügt hatte, aber als Graf an seiner Sanftmut und Güte gescheitert war.
Was dich irritiert, ist eben die Tatsache, dass er überall glänzt. Bei Hof, in den Reihen der Priester wie auch in denen der Brüder. Das Volk kennt und mag ihn und selbst der götterverdammte Randolf geht mit ihm anders um, als er es mit dir oder dem Kardinal tut. Wenn die beiden miteinander reden, ist es fast, als würde der König mit einem seiner Herzöge sprechen. Und das wirklich Merkwürdige ist, dass er das offenbar nicht einmal bemerkt. Aden scheint manchmal überall gleichzeitig zu sein, ist bei jedermann gleichermaßen geschätzt und macht nie Fehler. Oder hast du ihm je auch nur ansatzweise einen Vorwurf machen können? Kein Mensch sollte so unfehlbar sein, und einzig und allein das ist der Grund für dein Misstrauen ihm gegenüber. Deswegen fühlst du dich in seiner Gegenwart unbehaglich. Wenn man sich mit ihm längere Zeit unterhält, ist es, als spräche man mit einer betörenden Maske und der Teufel weiß, was hinter dieser Fassade