Blutherbst. Wolfe Eldritch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfe Eldritch
Издательство: Bookwire
Серия: Weltengrau
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738080407
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Waldläufer würden bis zum Tode kämpfen, um die Frauen und das ungeborene Leben in ihnen zu schützen, doch gegen ihre Jäger konnte keine sterbliche Macht bestehen. Noch entmutigender war die Vorstellung, dass sie es nach Osten schafften, das Ende des Waldes erreichten, und wenig später in der Fremde starben, weil sie das Band zur Magie ihrer Heimat verloren hatten. Dass sie verreckten wie Fische, die unachtsam auf trockenes Land geworfen wurden. Oder aber sie blieben am Leben, fanden eine neue Heimat und verloren trotzdem alle Kinder, weil die Verderbnis bereits in ihren Körpern selbst war. Diese letzte Möglichkeit, ebenso so einfach und naheliegend wie unspektakulär, erschien Lendir ob ihrer Banalität als die grausamste.

      Warst du eigentlich schon immer so ein feiger, melancholischer Narr, oder ist das ein neuer Wesenszug, kam ihm plötzlich in den Sinn. Als Nächstes grübelst du wieder über den Ursprung und den Grund der Verunreinigung der Waldmagie. Oder des Zornes der alten Götter, den sie bedeuten mag. Solche Abwärtsspiralen im Denken und Fühlen haben vermutlich auch Mirtiro und die Irren, die ihm folgen in den Wahnsinn getrieben. Nur kranke Gemüter konnten Hunderte von Menschen abschlachten und praktisch einen Krieg mit dem Königreich anfangen. Wenn du nicht damit aufhörst, dich selbst zu zerfleischen, kannst du dir gleich die Kehle durchschneiden, dann sind die anderen mit Tasheili alleine besser dran.

      Er schloss halb die Augen und rief sich das Bild der Hirtin vor Augen. Ihre schlanke, gerade Gestalt, von der Schwangerschaft noch kaum gezeichnet, genau wie die seiner jungen Gefährtin. Lendir fragte sich, ob die Ruhe und das Selbstbewusstsein, dass die Hirtin ausstrahlte, ebenso vorgetäuscht war, wie es bei ihm der Fall war. Er glaubte es nicht, hoffte es nicht.

      Der Schrei, der plötzlich die Luft durchschnitt, war hoch und wimmernd und beendete seine Gedanken wie der Hieb einer Klinge. Die Akustik im Inneren des Waldes war tückisch, doch sein Kopf fuhr instinktiv nach Nordosten und er begann zu rennen. Weitere Geräusche bestätigten ihm, dass er in die richtige Richtung lief. Neuerliche Schreie, Rufe und irgendetwas, das er nicht in Worte fassen konnte. Eine Art Summen, fern und nah zugleich. Er bewegte sich mit dem Geschick und der Schnelligkeit eines Eichhörnchens über den Waldboden, während seine Hände ohne sein Zutun Bogen und Köcher fanden. Er spürte mehr als er sah, wie die anderen auseinanderstoben. Alle anwesenden Männer, wie auch einige der Frauen, waren aktive oder ehemalige Späher, im Kampf ausgebildete Waldläufer. Lendir sah, wie dutzende von Bögen mit aufgelegten Pfeilen in die Richtung schwenkten, aus denen der Lärm kam.

      Er kam wie angewurzelt zum Stehen, nachdem er die ersten seiner Gefährten erreicht hatte. Die Silberbuchen wuchsen in diesem Bereich mehrere Meter auseinander und vor ihnen Tat sich eine kleine Lichtung auf. Sein Blick war auf einen Punkt zwischen den Stämmen gebannt, während die anderen zu seiner Linken und Rechten langsam einen Halbkreis bildeten. Das Geschöpf stand zwischen zwei der uralten Bäume, keine dreißig Schritte vor dem ehemaligen Anführer der Späher. Man hatte den Eindruck, es wäre gerade direkt aus einem der Stämme der Silberbuchen getreten. Wenn die alten Überlieferungen der Wahrheit entsprachen, konnte das tatsächlich der Fall sein.

      Der Körper der Gestalt war entfernt humanoid, wenn auch mit bizarren Proportionen. Die knorrigen Beine waren zu kurz, der verdrehte Leib zu lang und die Arme wirkten gelenklos und tentakelartig. Sowohl der Rumpf als auch die Extremitäten schienen aus zahllosen, ineinander verknoteten Wurzeln zu bestehen. In den dickeren Ranken der Kreatur, die sich knapp vier Schritte hoch erhob, konnte man mattleuchtende Adern von silbrigem Harz erkennen. Wie Blutgefäße schien die mystische Substanz, die sonst nur von den Silberbuchen produziert wurde, den ansonsten verdörrt wirkenden Körper netzartig zu durchziehen. Das Geschöpf wiegte sich leicht, wie eine Weide im Wind, doch die knorrigen Wurzelbeine machten nicht den Eindruck, mit dem Waldboden verwachsen zu sein. Zwischen den Schultern bildete eine einzige, dicke Wurzel einen kurzen, knotigen Hals. Der Kopf war eine groteske Mischung aus Baumkrone, Stamm und verzerrtem, entfernt menschenähnlichem Gesicht.

      Neben der Kreatur lag ein Waldläufer reglos am Boden, die Glieder verdreht wie die einer von einem jähzornigen Kind achtlos weggeworfenen Puppe. Lendir glaubte zunächst, dass der Schrei, den er anfangs gehört hatte, von dem unglücklichen Mann verursacht worden war. Dann jedoch erklang das hohe, wimmernde Weinen aufs Neue. Es erscholl in seinem Kopf und schien gleichzeitig tief aus dem Inneren des Waldes zu kommen. Er begriff nach einer Sekunde, dass es die Kreatur war, die diese Laute hervorbrachte. Es war ein Geräusch von solcher Trauer, Pein und Melancholie, dass sich seine Augen unweigerlich mit Tränen füllten. Nachdem es verklungen war, entstand ein Moment der Stille, der sich endlos hinzuziehen schien. Auf der einen Seite verharrte das Geschöpf, auf der anderen Seite dutzende von Silvalum, die mit ihren Bögen auf den alptraumhaften Besucher zielten.

      Plötzlich spürte er eine sanfte Berührung, als sich eine Hand leicht auf seine Schulter legte. Er drehte den Kopf ein kleines Stück und sah die ebenmäßigen Züge der Hirtin. Ihr Gesicht war entspannt und wirkte gelassen, aber die Augen verrieten ihre Besorgnis.

      »Es ist kaum möglich«, sagte sie flüsternd, »aber es ist eine Dryade. Es kann nichts anderes sein.«

      Sie hatte so leise gesprochen, dass Lendir sie eben noch verstanden hatte, obwohl sie keine Armeslänge von ihm entfernt stand. Und doch war das Ungesicht des Geschöpfes beim Klang ihrer Stimme zu ihnen herumgefahren. Es starrte sie mit nachtschwarzen Höhlen im dunklen, von silbrigem Schimmer durchzogenen Wurzelgesicht an. Wieder war da dieses Summen, ein unterschwelliges Geräusch, das man mehr fühlte als hörte.

      Einer der Männer neben ihnen ließ den Bogen sinken, murmelte etwas und legte die Waffe schließlich zu Boden. Dann ging er mit bedächtigen Schritten und ausgebreiteten Armen auf den uralten Baumgeist zu.

      »Feragen«, fuhr ihn Lendir mit leiser Stimme aber in scharfem Ton an. »Bleib stehen. Was zur ...«

      Der andere Waldläufer war bis zur Hälfte an die Dryade herangekommen, als er innehielt und sich umdrehte.

      »Wir wissen nichts«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Dass dieses Wesen dort Wirklichkeit ist, führt mir diese Tatsache nur zu deutlich vor Augen. Wenn es die alten Geister noch gibt, dann haben wir vielleicht doch das Herz unserer Heimat erzürnt. Dann sind vielleicht wir die Verwirrten und Verlorenen, und Mirtiro und die seinen dienen dem Willen des Waldes. Was ist denn, wenn der Wald wirklich zürnt?«

      Er deutete hinter sich auf die Dryade, die sich ihnen jetzt mit ihrem gesamten Körper zugewandt hatte. Lautlos starrte sie mit schwarzen Nichtaugen auf die Gestalt von Feragen.

      »Hätte der Wald nicht das Recht dazu«, fuhr dieser nun fort, »wenn seine Verkörperungen, wie dieses Geschöpf, bei seinen Kindern nur noch als Legenden oder Märchen zählen? Wenn seine Kinder mit den Außenweltlern verkehren und Waren von draußen in seine Welt fließen lassen? Wissen wir denn, was die Gegenstände von den Menschen in unserem Reich verursachen? Für mich zählt jedenfalls nur noch das dort«, schloss er mit einer Handbewegung in Richtung der Dryade hinter ihm, »ich unterwerfe mich dem Willen der Alten, wie es unsere Ahnen getan haben. Andere Autoritäten erkenne ich nicht mehr an, weder die von Mirtiro, noch die deine.«

      Er drehte sich zu dem uralten Wesen um und ging weiter auf die knorrige, verdrehte Gestalt zu.

      »Wenn der Wald verderbt ist«, ertönte die klare und tragende Stimme von Tasheili, »dann können es auch seine Geschöpfe sein. Ebenso wie sein Geist oder sein Wille. Nichts ist vor diesem Übel gefeit, selbst die alte Magie nicht.«

      Feragen kam beim Klang ihrer Stimme aus dem Tritt und blieb stehen. Erneut drehte er sich um. Hinter ihm war die Dryade bei den Worten der Hirtin zum Leben erwacht. Sie hob ihre Wurzelbeine aus dem Waldboden und machte einen erschreckend raschen Schritt in die Richtung des einsamen Waldläufers vor ihr. Ihre lange, schmale Gestalt trat mit einer fließenden, kraftvollen Bewegung vor und eine halbe Sekunde darauf traf einer ihrer Arme den Mann mit einer spielerisch wirkenden Geste im Rücken. Er flog wie ein Blatt im Wind zur Seite, prallte ein Dutzend Schritte weiter gegen den Stamm einer Silberbuche und blieb reglos liegen.

      »Schießt«, schrie Lendir, riss den Bogen hoch und folgte seinem eigenen Befehl. Während er den nächsten Pfeil auflegte, warf er einen schnellen Blick über die Schulter.

      »Thei, fort von hier, nimm die Schwangeren und