Die Hirtin machte einen Schritt zur Seite und schüttelte den Kopf.
»Sie hat mich gehört«, sagte sie ruhig und hob die Hände.
Lendir sah, wie die Luft vor ihren Handflächen auf die Art zu flimmern begann, wie sie es über einem Feuer tat. Ein matter, orangefarbener Glanz erfüllte die Luft vor ihrem Körper. Noch immer schlugen Pfeile in den Körper der Dryade. Im Sekundentakt trafen die tödlichen Geschosse mit einer Präzision, die von der jahrzehntelangen Übung der Schützen zeugte. Es wirkte, als wenn ein paar Kinder einen Baum mit Kieselsteinen bewarfen.
Lendir ließ den Bogen fallen und zog seine beiden Klingen, während die Dryade auf die Hirtin zukam. Die Bewegungen des Geschöpfes, ein wiegendes Gleiten, als berühre es nicht einmal den Waldboden, ließen ihn schaudern. Als es nur noch zwei seiner langen Schritte von Tasheili entfernt war, sprang er vor. Er schlug mit der längeren der Waffen zu, wobei er sein Körpergewicht hinter den Schlag legte. Der Treffer erschütterte seinen Arm bis zur Schulter hinauf, doch er ignorierte den Schmerz und glitt ansatzlos in eine Hechtrolle. Um Haaresbreite entkam er dem zischenden Hieb eines Wurzelarmes, und entging damit dem Schicksal, zerschmettert zu werden. Sein eigener Konter, der einem erwachsenen Mann eine Gliedmaße abgetrennt hätte, prallte ebenso wirkungslos ab, wie zuvor die Pfeile der Waldläufer. Er kam auf die Beine und griff erneut an, doch die Dryade wischte ihn mit dem anderen Arm beiseite wie ein lästiges Insekt.
Er spürte, wie der verdrehte, knorrige Arm des Baumgeistes ihn traf, ein Gefühl, als wenn ein Riese ihn mit einer gewaltigen Weidenkeule geschlagen hätte. Verzweifelt versuchte er, dem Schlag etwas von seiner Wucht zu nehmen, indem er sein Gewicht verlagerte. Trotzdem brachen einige Rippen wie dünne Äste und die Schulter wurde aus der Pfanne gestoßen, als er aufschlug.
Der Aufprall auf dem Waldboden presste ihm die Luft aus den Lungen und seine Sicht wurde für einen Moment dunkel und verschwommen. Er richtete sich dennoch langsam auf, kam in eine sitzende Position und wurde von einer Schmerzwelle überrollt, während er noch gegen Übelkeit und Schwindel kämpfte. Der linke Arm war ein nutzloses Anhängsel seines Körpers geworden, jeder Atemzug ein Dolch in der Brust. Er konnte nichts tun, als dazusitzen und gegen die Schwärze anzukämpfen, die sich von allen Seiten in sein Sichtfeld zu schieben versuchte.
Die Dryade hatte mit ihren langen, weidenartigen Armen zwei weitere Männer niedergestreckt, die sich ihr in den Weg gestellt hatten, um die Hirtin zu schützen. Es wurde nicht mehr geschossen, doch floh auch niemand. Zu gebannt waren die Anwesenden von dem Anblick der uralten Inkarnation des Geistes des Mutterwaldes. Diese stand jetzt direkt vor Tasheili und hielt beim Klang ihrer Stimme erneut inne. Knarrend bog sich der Wurzelhals, als sich der Kopf dem Boden näherte, um den Blick auf die zierliche Silvalum zu senken. Vor der Frau waberte eine bernsteinfarbene, flimmernde Blase, ein Schild aus reinster Waldmagie.
»Halte ein, alte Schwester«, intonierte Tasheili, »um deiner Kinder willen beschwöre ich dich.«
Sie hatte die Hände jetzt in der Höhe ihres Bauches erhoben, wo ihr ungeborenes Kind schlief. Die Handflächen noch immer nach außen gewandt, stand sie aufrecht da, den Kopf weit im Nacken, um in das Ungesicht der Dryade blicken zu können.
»Wir sind die Kinder des Waldes, alte Schwester, wie wir es immer waren. Um unseres Schwures und unseres Blutes willen ...«
Einer der Weidenarme glitt mit einer fast zärtlichen Bewegung nach vorne und in den Bauch der Silvalum. Er drang ohne jeden Widerstand durch den nutzlosen Schild und dann weiter nach oben in das Fleisch der Hirtin. Er hob den zarten Körper vom Boden, als wäre er ein Sack voller Federn.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Tasheili von dem Weidenarm an ihrem Leib hinab wieder und zurück. Ihr Gesicht war eine Fratze aus Unglauben und Grauen. Das knorrige Ding stecke tief in ihren Rippen und was immer in ihrem Bauch gelebt hatte, musste zerquetscht worden sein wie ein Insekt. Langsam aber unerbittlich hob sie sich weiter vom Boden. Sie richtete den brechenden Blick ein letztes Mal in das schreckliche Antlitz des Baumgeistes. Das war leicht, weil sie sich jetzt auf gleicher Höhe befand. Die Hirtin öffnete den Mund, doch es drang nichts daraus hervor als ein gutturales Gurgeln und ein Schwall dunklen Blutes.
Für einen Augenblick war es bis auf das leise Knarren des wiegenden Körpers der Dryade völlig still. Dann schleuderte sie die Sterbende achtlos fort. Ein Stimmengewirr erscholl und Lendir sah in der ihn zunehmend umfangenen Dunkelheit, wie die Silvalum auseinander stoben.
Zwei Frauen und ein Mann griffen die Dryade mit ihren Klingen an, die Gesichter in Wut und Wahnsinn verzerrt. Sie wurden geschlachtet wie Vieh. Andere ergriffen blind die Flucht und rannten, so schnell sie die Beine trugen, in den Wald. Hier und da entstand kurz ein Gerangel, dann flogen wieder Pfeile durch die Luft. Viele schossen jetzt vorbei, doch auch die wenigen Treffer blieben so wirkungslos wie zuvor.
Mühsam drehte Lendir seinen Körper, um sich weiter umzusehen. Er hoffte inständig, Uniro nicht in der Nähe des Baumgeistes zu finden. So schön es auch gewesen wäre, sie noch einmal zu sehen, bevor er starb. Doch sie jetzt zu sehen würde bedeuten, dass sie dem mordenden Alptraum, der soeben ihre letzte Hoffnung zerstört hatte, viel zu nahe war. Auch wollte er nicht erleben, wie sie in diesem Chaos niedergetrampelt wurde. Obwohl all das natürlich im Grunde keine Rolle mehr spielte.
Mit, wie es ihm vorkam, unendlicher Langsamkeit drehte er seinen Kopf erneut in die Richtung, in dem sich die Dryade befand. Verwirrt sah er, wie der dünne Weidenkörper an Geschwindigkeit aufnahm und loslief. Drei dieser furchtbaren, gleitenden Schritte, und das Geschöpf schien zu rennen. Drei weitere, und es bewegte sich so schnell, dass es vor den Augen verschwamm. Dann ertönte wieder dieser langgezogen, wimmernde Schrei, als es mit voller Wucht eine Silberbuche traf. Der Körper verschmolz mit der dunklen, silberdurchwobenen Rinde, als würde er in eine Flüssigkeit eintauchen.
Für einen Wimpernschlag sah Lendir, wie die zerfließende Gestalt der Dryade unförmig in die Buche hineinwaberte, dann war die Kreatur verschwunden. Ein flimmernder Umriss sprang aus der anderen Seite des Stammes heraus und flitze rasend schnell zum nächsten Baum. Dort wiederholte sich das Schauspiel, nur dass die Dryade jetzt nur noch als Schatten zu erkennen war. Sie flimmerte blitzartig von Baum zu Baum. Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis sie Lendirs brechendem Blick entschwunden war.
Während die Schmerzen in langsamen, krampfartigen Wellen über ihn herfielen, fragte er sich, ob die anderen sich nun wieder sammeln würden. Erschöpft sank er auf den Waldboden und erzitterte unter dem nächsten Krampf. Er sah in der Ferne den verdrehten und verstümmelten Körper von Tasheili. Was von ihr übrig war, hing auf einem der bodennahen Äste einer Silbereiche, in die der Baumgeist sie geworfen hatte. Die Hirtin war nur noch blutiges Fleisch, ausgeweidet wie ein Stück Waid.
Selbst wenn es ihr gelungen sein sollte, ihre schrecklichen Jäger abzuhängen, war sie doch die einzige Hoffnung gewesen, einen Weg aus dem Wald und in eine neue Zukunft zu finden. Dahin, zerschmettert, verloren. Die Schwärze wurde dichter und Lendir spürte, wie die Bewusstlosigkeit mit jeder Welle der Pein näher rückte.
Ein Teil von ihm wollte dagegen ankämpfen, wollte seine Uniro noch einmal wiedersehen, sie in den Armen halten. Wollte kämpfen und dafür Sorgen, dass all ihre Verluste nicht umsonst waren.
Der andere sah immer und immer wieder das Bild vor sich, wie der knorrige Arm der Dryade beinahe zärtlich in den Körper der Hirtin geglitten und ihr das ungeborene Kind am eigenen Brustkorb zerquetscht hatte.
Dieser Teil wollte einfach nur in die Dunkelheit gleiten und vergessen. Dieser Teil siegte.
5. Kapitel 4
Sighold
Die Flure des nördlichen Teils des Schlosses waren zu dieser frühen Morgenstunde menschenleer. Die Dienerschaft war natürlich bereits seit Längerem auf den Beinen und ging ihrer Arbeit nach. Herren und Gäste hingegen, die sich jederzeit frei bewegen