Einen Augenblick darauf hörte die junge Frau, die auf dem Steine saß, ein schwaches Geräusch hinter sich. Sie sah einen Mann von einer Klippe herunterklettern und meinte den jungen Arbeiter wiederzuerkennen, der ihr vor einigen Wochen das Meer gezeigt hatte. Eiligst trocknete sie daher ihre Augen und ging ihm entgegen, um ihm endlich ihren Dank zu sagen.
»Ich sah Sie hier sitzen, und da nahm ich mir die Freiheit, herzukommen,« sagte der junge Arbeiter. »Dort an der Landungsbrücke liegt mein Boot. Es ist ein guter Segler, so einfach es ist, und vielleicht könnte ich die Ehre haben, Ihnen eine Segelfahrt anzubieten?«
An einem anderen Tage hätte sie wahrscheinlich sein Anerbieten nicht angenommen. Aber gerade jetzt war sie besonders empfänglich und dankbar für jede kleine Freundlichkeit, und so konnte sie nicht nein sagen. Und der junge Arbeiter, der so nett und bescheiden aussah, sollte auch nicht meinen, sie lehne es ab, mit ihm zu fahren, weil sein Boot ein ganz einfaches, unbemaltes und ungedecktes Fischerboot und er selbst ein einfacher Mann im Arbeiteranzug war, der sich am heutigen Tage in großen Wasserstiefeln, einem groben Wams und einem äußerst kleidsamen Südwester, der anzusehen war wie der eiserne Helm eines alten Seekönigs, zeigte.
So stießen sie also von Land, und er zog das Großsegel auf; der schwere Südwind füllte es und neigte das Boot auf die Seite. Er aber hielt das Steuer in fester Hand, lenkte das Boot gerade gegen Westen, und sie flogen dem offenen Meere zu.
Die junge Pfarrfrau war, wie gesagt, nicht darum mit auf die Segelfahrt gegangen, weil sie sich irgendein Vergnügen davon versprochen hätte. Sie hätte nicht geglaubt, daß es auf der weiten Welt noch irgend etwas gäbe, das imstande wäre, den großen Kummer, der an diesem Morgen auf ihr lastete, zu verringern.
Aber nachdem sie eine Weile gesegelt waren, rann ihr das Blut unwillkürlich lebhafter durch den Körper, und das Schwere, das ihr auferlegt war, erschien ihr nicht mehr ganz so unerträglich schwer.
An diesem Tag leuchtete der Himmel in hellem, reinem Blau, nur da und dort zeigten sich kleine lichte Wölkchen.
Aber so klar und hell der Himmel auch war, so fand sich doch in der Luftschicht nahe bei der Erde genügend Feuchtigkeit, um das Licht zu brechen und alle nackten und kahlen Schären grauviolett oder rötlich oder blaugrau zu färben. Diese Strahlenbrechung reichte auch aus, sie höher und größer erscheinen zu lassen, und so erhoben sich die nüchternen Felsenklippen majestätisch aus dem Wasser.
Und sie reichte auch aus, jede Spalte tiefer und schwärzer, jeden Abhang jäher und schwindelnder zu machen und jeden Abstand zu betonen, so daß man Bergkamm hinter Bergkamm in immer weicheren und feineren und himmlischeren Farbentönen sich erheben sah.
Und nachdem wieder eine Weile vergangen war, da bekam die junge Frau einen gar stillen, frommen und fragenden Blick in die Augen, und sie legte die Hände gefaltet in den Schoß wie in Anbetung versunken vor all dem Herrlichen, das sich rings um sie her ausbreitete.
Eine gute Weile dachte sie an nichts anderes mehr, als daß sie jetzt Bekanntschaft mit einem Wunder Gottes mache. Nun machte sie erst richtig Bekanntschaft mit dem Meere. Seither hatte sie nie geahnt, welches Gefühl es war, ihm so nahe zu kommen, seine Atemzüge in den Ohren rauschen zu hören, ihm in das ewig wechselnde Gesicht zu schauen, sich an seinen wogenden Busen zu legen und zu fühlen, wie es war, von ihm in Ruhe gewiegt zu werden.
Sven Elversson drehte das Steuer, und sie lenkten jetzt gen Norden zwischen die Schären hinein; nun sah sich die junge Frau unter zerklüfteten Felswänden hinsegeln, und sie erblickte kleine rote Fischerhütten unter alten, mit schweren rotbraunen Früchten bedeckten Birnbäumen, sie entdeckte kleine Wiesenfleckchen zwischen den Schroffen, die giftig grün, ja giftiger und lebenslustiger grün aussahen, als sie der lockendste Frühling zeigen kann.
Sven Elversson führte Sigrun von Sund zu Sund. Sie begegneten weißen Dampfschiffen, schweren, überlasteten Schuten und leichten Jachten, die wie riesige Segelfalter übers Wasser hinglitten.
Aber Sven Elversson verwunderte sich über das Meer und die Schären und die Hütten und die Wiesen und die Birnbäume. Denn einer solchen Größe und eines solchen Farbenreichtums und solcher Schönheit konnten sie sich nicht jeden Tag rühmen. Und er freute sich, daß die junge Frau sie in ihrer Festtagspracht zu sehen bekam.
»Sie müssen gewußt haben, wie hoch sie die Schönheit schätzt,« dachte er.
Und auch mit Sven Elversson war es dasselbe, wie mit dem Meer und mit den Schären. Er zeigte sich mehr zu seinem Vorteil, als es sonst der Fall war.
Die beiden im Boote sprachen zuerst vom Wetter und von der Schönheit um sie her, und er nannte ihr die Namen der Klippen und Inseln, an denen sie vorüberfuhren. Aber allmählich kamen sie auch aus andere Dinge zu sprechen, und sie redeten von allem möglichen, wie wenn sie schon langjährige Freunde wären.
Sven legte die hinderliche Unterwürfigkeit und Schüchternheit ab und sprach frei und natürlich, und sie verwunderte sich und dachte, solche jungen Männer, die in den Schären aufwachsen, frühzeitig zur See kommen und fremde Länder sehen, die müßten sich ja eine ganz andere Bildung und Weltkenntnis erwerben, als Leute, die beständig am Lande bleiben.
Sie faßte ein wirklich großes Vertrauen zu dem jungen Manne, denn er war bescheiden und fein und klug, und sie hätte gewünscht, ihn besser zu kennen und zu wissen, wer er war, auch hätte sie gerne einen Menschen wie ihn gehabt, den sie hätte um Rat fragen können, wenn sie etwas erlebte, wobei sich ihr eigener Verstand nicht zu helfen wußte.
Und was Sven Elversson betrifft, so überkam ihn, während er mit ihr redete, mit dieser Unschuldigen, die nicht wußte, was Sünde war, eine große Lust, von seinem Vergehen zu berichten.
Er überlegte, daß die Menschen, die sich seither an ihm geärgert und ihn verdammt hatten, alle wohl vertraut mit Sünde und Laster gewesen waren. Wohl alle hatten einmal betrogen, gelogen, gelästert, gestohlen, waren hochmütig, unbarmherzig, faul, geizig, rachsüchtig oder boshaft gewesen.
Aber diese junge Pfarrerstochter hier hatte ein stilles und wohlbehütetes Leben geführt. Sie war nicht mit Begierden und Leidenschaften befleckt. Sie hatte noch keine große Erfahrung von eigener und anderer Leute Sündhaftigkeit. Sie hatte nie einen schlechten Gedanken gehegt und niemals einem Menschen Böses gewünscht.
Von ihr konnte er kein allzu mildes Urteil erwarten, denn sie war über alle Maßen zartfühlend, sie konnte ihren Abscheu vor allem, was ihr Widerstand, nicht zurückhalten. Aber er hätte sie doch gerne um ihr Urteil angegangen. Sie sollte sein höchster Richter sein. Er konnte nicht um ein gerechtes Urteil zum König gehen, aber er konnte zu ihr gehen.
Er widerstand jedoch lange, schüchtern und unsicher wie er war, und während er noch immer schwankte, sah er die junge Frau wieder in Schweigen versinken. Offenbar wollte sie gerne etwas sagen, fand aber nicht die Worte dazu.
Endlich schien sie aber doch zum Entschlusse zu kommen, und dann packte sie auch gleich den Stier bei den Hörnern.
»Sie haben doch gesehen, daß ich weinte, als Sie vorhin zu mir herunterkamen?« fragte sie.
»Ja,« erwiderte er. »Das kann ich nicht leugnen.«
»Es war gerade kein großer Kummer,« sagte sie. »Es war nur ein Brief, den ich erhalten habe. Er war von einer guten Freundin von mir, einer reichen Bauerntochter, die sich vor kurzem verheiratet hat und einen sehr braven, vermöglichen und hervorragenden Mann bekam; ich und jedermann glaubte, sie werde ungemein glücklich werden.«
»Und jetzt ist diese Hoffnung vielleicht nicht in Erfüllung gegangen?« fragte Sven Elversson. Dabei legte er beide Hände auf die Ruderpinne, beugte sich zu ihr hinüber und schien den größten Anteil an allem zu nehmen, was die gute Freundin betraf.
»Nein,« sagte sie und schaute weit hinaus aufs Meer, als scheue sie sich, seinem Blick zu begegnen. »Glücklich ist sie nicht geworden. Sie schreibt, ihr Mann sei geradezu unzufrieden mit ihr. Aber sie kann durchaus nicht begreifen, weshalb. Sie fragt mich, ob ich ihr nicht eine Erklärung