Und trotz ihrer Verwirrung und ihrem Schrecken, trotz des erstickenden Gefühls, das ihr gleichsam den Hals zuschnürte, erfaßte sie doch, daß er etwas vom Meere sagte; da blieb sie stehen und sah ihn an.
»Kann man hier in der Nähe irgendwo das Meer sehen?« fragte sie.
»Gewiß sieht man das Meer,« erwiderte er. Und wenn sie ihm nur die große Ehre erweisen wolle, wenn sie keine Bedenken trage, in seiner Gesellschaft zu gehen, so könne sie es sehr bald zu sehen bekommen.
Er schlug einen kleinen Seitenpfad ein, der in gerader Richtung nach Westen führte, und sie folgte ihm. Sie sah ihn an: er war wie ein besserer Arbeiter gekleidet und hatte ein freundliches, anziehendes Gesicht, obgleich sein Benehmen beinahe lächerlich unterwürfig war, und so trug sie keinen Augenblick Bedenken, ihm zu folgen.
Der Abend versprach außerordentlich schön zu werden. Ein wunderbar rötlicher Schimmer senkte sich vom Himmel hernieder. Sigrun war es geradezu, als nehme die Luft um sie her Farbe an und werde sichtbar, ja als werde sie ganz erfüllt mit kleinen zarten Rosenblättchen, die wie Schneeflocken niederrieselten und die ganze Gegend umher rosig färbten wie eine errötende Braut. Und als sie an der westlichen Bergwand angelangt war, da sah sie, daß diese nicht zusammenhängend war, wie sie gemeint hatte. Sie bestand aus mächtigen Felskuppen, die jedoch nicht dicht beieinander standen, sondern an mehreren Stellen einen Durchgang frei ließen.
Und der junge Arbeiter führte Sigrun zwischen den Klippen hindurch, und sie sah weißen Sand aus dem Boden und die eine und die andere verstreute Muschel. Nachher, als sie einen Felsvorsprung umgangen hatten, mußte die junge Frau stehen bleiben und tief Atem holen.
Weiter, offener Horizont breitete sich vor ihr aus. Das ganze rötliche Luftmeer wogte und wallte, darunter dehnte sich das hellglänzende Wassermeer aus, und nichts war mehr da, was einengte. Alles war frei und offen bis hin zur Sonne, die dort im Westen eben unterging.
Kein Land lag vor ihr, nur ein schmaler Sandstreifen mit einer langen Steinmole und weiter draußen im Meer einige Klippen, die schwarz aus dem perlmutterfarbigen Wasser aufragten.
Und im selben Augenblick, wo Sigrun dieses sah, wußte sie, daß sie gerettet war. Wo hätte sie lieber sein mögen, als an einem Ort, wo sie solch großartige Schönheit in der Nähe hatte, eine so großartige Schönheit, die sie alle Tage schauen konnte?
Daß ihr davon bis jetzt niemand ein Wort gesagt hatte! Sie setzte sich auf einen Stein und blieb da lange still sitzen. Sie sog das Licht förmlich mit den Augen in sich ein und ließ ihre Blicke durch den weiten Raum gleiten; sie konnten schweifen, so weit sie Lust hatten, gleich Vögeln, die aus einem engen Käfig entflogen sind.
Und sie dankte Gott für ihr Heim, in dessen Nähe das große, gewaltige, weite, frische Meer war.
Aber sie saß gewiß allzu lange, ohne ein Wort zu sagen, denn als sie endlich aufschaute, merkte sie, daß der junge Mann seines Weges gegangen war.
Damit war sie eigentlich recht zufrieden. Sie wollte ihm schon noch ein andermal danken. Jetzt freute sie sich ihrer Einsamkeit.
Sie fühlte sich stark und hoffnungsvoll. Jetzt konnte sie auf ganz andere Weise denn zuvor gegen das Gefährliche und Beklemmende, das über der Gegend lag, ankämpfen.
Plötzlich gedachte sie ihres Mannes daheim; gewiß war er besorgt um sie. Und sie erhob sich, um nach Hause zu gehen und ihm zu erzählen, daß sie geheilt und glücklich sei. Und sie wollte ihm für seine Strenge danken, ja danken, weil er sie ausgeschickt hatte, ihrem Feinde trotzig die Stirn zu bieten.
Die Segelfahrt
Es war an einem Sonntagvormittag gegen Ende Oktober. Ein schwerer Wind wehte aus Süden, aus Ländern, in denen die Wärme noch immer zu Hause war, wo die Reben noch blühten und Knospen trieben, wo die Weintrauben eben geherbstet worden waren und der erste Traubensaft in den Bütten gärte.
Der schwere Südwind führte unruhige und angstvolle Laute mit sich. Horchte man längere Zeit darauf, so wurde man verwirrt im Kopf, als höre man einen Fremden in einer unbekannten Sprache reden. Man wußte nicht, was das für Sachen waren, von denen er berichten wollte, ob es große Geheimnisse waren, oder ob er einem nur etwas ins Ohr flüstern wollte von all den golden gefärbten Bäumen, den abgefallenen Schmetterlingsflügeln und den vielen leeren Vogelnestern, an denen er auf der Herfahrt vorbeigesaust war.
An diesem Sonntag hatte Sven Elversson seinen Vater im Segelboot nach dem kleinen Hafen jenseits der Bergwand in Applum gefahren, und der Vater war in die Kirche gegangen, um dem Gottesdienst beizuwohnen. Aber der Sohn hatte ihn nicht bis ins Kirchdorf begleitet, sondern eine Kluft zur Rechten in der Felswand aufgesucht. Die kannte er noch von alten Zeiten her; schon als Junge hatte er dort oben im grünen Heidekraut gelegen.
Die jetzige Zeit war die beste, die Sven Elversson seit seiner Heimkehr in sein Vaterland erlebt hatte. Jenes geduldige und verzagte Lächeln fing an von seinem Gesicht zu weichen, und die bitteren Seelenschmerzen hatten beinahe aufgehört, ihn zu quälen.
Als er nun so auf der Klippe lag und auf den Wind lauschte, und sich fragte, was der ihm wohl zu sagen haben könnte, und aufs Meer hinausstarrte, das groß und weit vor ihm lag, da mußte er an ein Gesicht denken, das er einmal gehabt hatte, als er ebenso wie jetzt am Meeresstrand auf einem Felsenhang lag, mit der weiten, offenen See vor Augen.
Damals war er müde geworden von dem starken Sonnenglanz auf den Wogen, er hatte die Augen geschlossen und war eine lange Weile regungslos liegen geblieben. Aber als er dann rasch die Augen aufgeschlagen und gerade vor sich hin auf die große Wasserfläche hinabgeschaut hatte, da hatte er eine Meerjungfrau gesehen.
Doch es war nur für den kürzesten Augenblick gewesen. Sie war sofort wieder verschwunden; sobald sein Blick sie getroffen hatte, war sie in ein Nebelwölkchen verwandelt, das über dem Wasser hinschwebte.
Aber gesehen hatte er sie jedenfalls, und das hatte eine große Freude in ihm erregt, er hatte sich bevorzugt, geehrt und überglücklich gefühlt, darum daß er nun einen Schimmer von einem der schönen Naturwesen erschaut hatte, die Luft und Wasser erfüllen und sich gewöhnlich so eifersüchtig vor den Menschen versteckt halten.
Er hatte auch das sichere Gefühl gehabt, daß die ganze Schar der Meerjungfrauen auf dem Wasserspiegel gespielt hatte, aber als er anfing, die Lider zu heben, waren sie allesamt verschwunden. Nur diese eine hatte nicht zu rechter Zeit untertauchen können.
Jenen Anblick hatte er niemals wieder vergessen, und niemals saß er einsam am weiten Meer, auf dem kein Segel zu schauen war, ohne daß er die Augen schloß und eine lange Weile regungslos liegen blieb, damit die Meerjungfrauen glauben sollten, er schlafe, und sich herauswagen aus der Tiefe. Aber niemals seit jenem erstenmal hatte er Glück gehabt und eine von ihnen gesehen.
Nun machte er an diesem Tag wieder einen Versuch, wenn auch mit wenig Hoffnung. Als er dann meinte, lange genug stillgelegen zu haben, und die Augen aufschlug, wurde er ganz betroffen, denn er sah allerdings keinen weißen Leib, halb Jungfrau halb Fisch, draußen auf den Wogen, aber auf einem hohen Steine, der am Saume des Wassers lag, saß ein junges Weib. Und wie sie so in ihrem hellen Gewande geschmeidig angeschmiegt oben auf dem Steine saß, konnte sie ebensogut dem Wasser entstiegen als vom Lande gekommen sein.
Doch eines war bald zu merken: die dort auf dem Steine gehörte nicht zu jenen sorglosen Naturgeistern. Einmal ums andere trocknete sie ihre Augen mit einem Taschentuch, nein, sie konnte nichts anderes sein als ein armes Menschenkind, dem Schmerz und Tränen nicht fremd waren, das sah er ganz deutlich.
Sven Elversson schaute sie an und fragte sich, was das wohl für ein Kummer sein könnte, der sie drückte. Und er hätte gerne gewußt, ob es nun wieder häßliche Hügel oder einengende Bergwände seien, die ihr Angst einflößten, infolgedessen sie nicht in die Kirche gehen konnte, sondern einsam und allein am Meeresstrand sitzen und weinen mußte.
Sven sah, wie der zarte Körper von Schluchzen durchschüttelt wurde, und aus ihrer ganzen Haltung konnte