Wächter des Paradieses. Matthias Hahn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Hahn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847639336
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verunsichert. „Oder, falls es nur ein Schreibsklave war, der den Text zu Papier brachte … Dann kann der ja durchaus andere Interessen gehabt haben als seine Auftraggeber für die Chroniken. Vielleicht war er ja ein Mönch? Die meisten der damaligen Schreiber waren doch Mönche, oder? Vielleicht hat er sich deshalb mit der Mystik beschäftigt.“

      „Annahme“, warf Günther Mehl ein. „Nichts als Annahme. Wir brauchen Fakten. Sonst könnte ich genauso gut behaupten, dass dein Schreibsklave sich einen Joint gedreht oder LSD genommen hat, als er den Text da schrieb.“ Günther Mehls dünne Lippen verzogen sich unter seinem schütteren Schnurrbart zu einem amüsierten Lächeln.

      Richard konnte über diesen Witz nicht lachen. Sein Kollege erlaubte sich gerne einen Scherz, wenn er auf Kosten anderer ging. Günther Mehl arbeitete schon seit über vier Jahren im Institut für Byzantinistik. Er hatte vor einigen Monaten seine Doktorarbeit abgeschlossen und ein Stipendium als wissenschaftlicher Mitarbeiter erhalten. Richard konnte ihn eigentlich nicht leiden, aber in einem so kleinen Institut wie dem der Byzantinistik war die Auswahl an Kollegen, an die man sich mit seinen neuesten Ergebnissen wenden konnte, nicht allzu groß. Außerdem kannte sich Günther Mehl mit Theophanes Continuatus aus, hatte er sich doch in seiner Doktorarbeit mit der wahren Identität dieses Autors beschäftigt, ohne allerdings Näheres darüber herausgefunden zu haben.

      „Dann kommt hinzu, dass die Schriften sich zwar ähnlich sehen, aber meiner Meinung nach nicht identisch sind“, merkte Günther Mehl gnadenlos an.

      „Sie sehen verschieden aus, weil der Verfasser anscheinend sehr aufgeregt war, als er den Text geschrieben hat“, verteidigte sich Richard. „Vielleicht stand er unter Zeitdruck oder unter einem starken Eindruck – oder er hatte gerade einen Joint geraucht.“

      Günther lachte. Er lachte immer über Scherze, die von ihm stammten und die andere wiederholten, selbst wenn sie so abgeschmackt waren wie dieser.

      „Schön, dass du deinen Humor behältst“, frotzelte er, „aber leider macht das die Schriften auch nicht identischer. Lies den Text doch noch einmal vor.“

      „Auf Griechisch?“

      „Die Übersetzung genügt.“

      „Gut.“ Richard entfaltete seine Kopie. „Zuerst stehen da zwei Wörter, die sich nicht vollständig entziffern lassen. Das erste könnte Angelos, also Engel oder Bote bedeuten, das zweite vielleicht zeigen. Dann fehlen ein paar Wörter, dann lese ich da Eingang und Paradies oder auch paradiesisch. Der Satz könnte also bedeuten: Der Engel zeigte mir den Eingang ins Paradies. Danach folgt eine Lücke und dann kommt: Ich wurde in das Allerheiligste geführt, dort saßen wir im Kreis und lauschten der herrlichsten Musik, die je ein menschliches Ohr vernommen hat. Wir ließen von jedem Gedanken an die Welt, wir richteten all unser Denken auf ihn, den Herrn …“

      „Aha, eine Meditationstechnik“, unterbrach Günther Mehl. „Besser als jeder Joint“, spöttelte er. „Es war nicht nur unter den christlichen Mystikern eine sehr verbreitete Methode, sein Denken auf einen Gegenstand zu fokussieren, in diesem Fall auf Gott, solange, bis sich Halluzinationen einstellten. Dazu etwas Weihrauch … Weißt du, was für Unmengen von Weihrauch in einem orthodoxen Gottesdienst verbrannt werden? Da bleibt keiner nüchtern. Wahrscheinlich war der Verfasser deines Textes irgendein kleiner Mönch aus einem Kloster, das sich dem Mystizismus verschrieben hatte. Aber lies nur weiter.“

      „… richteten all unser Denken auf ihn, den Herrn … ab da wird es erst einmal unleserlich, dann steht da wandern, dann anbeten, dann preiset die Großartigkeit seiner Schöpfung, es folgen wieder ein paar unleserliche Wörter, danach kommt wieder ein längeres entzifferbares Stück: … erblickten gewaltige Tiere, Vögel, groß wie Kamele und gefräßig wie Tiger … und wieder zwei unleserliche Wörter, dann … Strafe allen Ungerechten. Wälder voller Leben, wie der Herr es nicht auf unserer Erde erschaffen hatte, riesige Schafe mit langen Schweinerüsseln, Affen mit langen Schwänzen, die ihnen der Herr als fünften Arm bestimmte, gigantische Riesen mit Fell überdeckt… die nächsten drei Begriffe kann man nicht entziffern, dann langen Sichel… das Wort bricht ab, nur ny kann ich noch lesen, dann den Händen, vielleicht also: lange Sicheln in den Händen. Das darauf folgende Teilstück ist wieder gut lesbar: … aber friedlich wie die Taube am Himmel, das alles sah ich und noch viel mehr an Wunderbarem. Es wohnten dort Menschen, nackt wie ein Neugeborenes, doch schämten sie sich nicht ihrer Blöße.

      „Das Paradies“, bemerkte Günther.

      „Anscheinend“, antwortete Richard. „Anschließend folgt wieder eine Lücke, dann: … stand er vor mir, schön wie die Vollkommenheit Gottes und schüttelte sein goldenes Haar.“

      „Er?“

      „Das Geschlecht geht nicht eindeutig aus dem Text hervor, aber es kann eigentlich nur der Engel gemeint sein.“

      „Annahme.“ Günther bezweifelte grundsätzlich alles, eine Eigenschaft, mit der nicht nur Richard so seine Schwierigkeiten hatte.

      „Dann fehlt wieder eine ganze Menge“, fuhr Richard fort, der sich seine Probleme mit Günthers Widerspruchsmanie nicht anmerken lassen wollte, denn das hätte diesen lediglich in seiner Einstellung bestärkt. „Schließlich folgen noch die Worte Gefahr und überleben und ganz am Ende obsiegt das Böse. Das war’s.“

      „Zeig mal“, bat Günther und überflog den Text. „Der Schluss sieht aber nicht nach Paradies aus.“

      „Vielleicht bezieht sich der Autor hier auf ein anderes Thema.“

      „Wie vielleicht während des gesamten Textes.“ Günther begann, sich in Fahrt zu reden. „Zu viele Annahmen, zu wenige Hinweise. Ich will dich ja in deinem Elan nicht bremsen, aber ich fürchte, du verrennst dich da ein wenig. Es ist schön und gut, Hypothesen aufzubauen, aber man sollte dabei doch immer wissenschaftlich arbeiten. Wenn ich ehrlich bin, dann kann ich dir nur raten, die ganze Sache zu vergessen. Wechsle doch dein Thema, unser Prof hat bestimmt nichts dagegen, du kannst ihn ja gleich morgen bei diesem Arbeitsessen darauf ansprechen. Vergiss’ die Mystik, nimm lieber ein soziales Thema, das liegt dir mehr, da gibt auch die Geschichtsschreibung viel mehr her. Auch Theophanes Continuatus hat einiges über die Sozialpolitik seiner Kaiser geschrieben, du kannst also sogar beim gleichen Historiker bleiben, wenn dir soviel an ihm liegt.“

      „Ich glaub’, ich muss jetzt los.“ Richard stopfte hastig sein Material in die Tasche. „Meine Straßenbahn fährt sonst ohne mich ab.“

      „Dann aber hurtig.“ Günther öffnete die Tür. Richard trat hinaus, drehte sich jedoch an der Treppe noch einmal um.

      „Weißt du, Günther“, bemerkte er, „du verstehst es immer wieder, einen so richtig aufzubauen.“

      Günther lachte nicht, denn dieser Scherz stammte nicht von ihm. „Aber klar doch“, erwiderte er, „dafür sind Kollegen doch da. Bis morgen dann, beim Arbeitsessen.“

      *

      Die Arbeitsessen bei Doktor Benjamin Koch, Professor für Byzantinistik an der Universität Würzburg, zeichneten sich stets durch eine sehr gezwungene Atmosphäre aus. Außer ihm, seiner Frau, seinem Assistenten Günther Mehl und natürlich Richard war manchmal noch der Dekan der altphilologischen Fakultät anwesend, und dann wurde es besonders scheußlich. In diesem Fall wünschte sich Richard lediglich, dass die Veranstaltung so schnell wie möglich zu Ende ginge und hörte meist nur mit einem Ohr zu, um reagieren zu können, falls er angesprochen wurde. Doch das geschah zum Glück nur sehr selten, da die Herren Professoren hauptsächlich mit der Darstellung ihrer eigenen Eitelkeit beschäftigt waren. Als er an diesem Abend an Professor Kochs Tür läutete, hatte er von vorneherein kein gutes Gefühl, hatte er doch die Straßenbahn verpasst und war mit zehn Minuten Verspätung vor Kochs Villa aufgekreuzt.

      Die Frau seines Chefs öffnete ihm, setzte eine missbilligende Miene auf und warf einen deutlichen Blick auf die Uhr. Richard entschuldigte sich und betrat das Wohnzimmer. Gott sei Dank war der Dekan nicht oder zumindest noch nicht erschienen,