Wächter des Paradieses. Matthias Hahn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Hahn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847639336
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Tzimiskes“, es hieß „Ein neues Fundstück byzantinischer Mystik des frühen Mittelalters. Bezüge zu Texten von Autoren aus der Epoche der amorischen und der makedonischen Dynastie.“

      Richard durfte sich nicht beschweren. Hinter diesem langatmigen Titel verbarg sich eine für einen Byzantinisten nicht uninteressante Aufgabe.

      Vor einigen Monaten hatte man in einer Grabungsstätte bei Edirne unweit Istanbuls das Bruchstück eines Textes gefunden, in dem ein bislang unbekannter Verfasser von einer Reise ins Paradies erzählte. Zumindest war dies die vorläufige Arbeitshypothese, denn die erhaltenen Reste umfassten gerade einmal 145 Wörter in der Originalsprache und mindestens ebenso viele Lücken.

      Richard nahm seine Kopie des wertvollen Dokuments aus einer Mappe und warf einen kurzen, ein wenig mutlosen Blick auf die gedrängten griechischen Buchstaben. Seine Aufgabe bestand darin, in bereits bekannten Quellen nach Bezügen zu diesem Text zu suchen. Das hieß, er musste alle bekannten byzantinischen Autoren vom achten bis zum elften Jahrhundert auf Hinweise durchforsten, die zur Identifizierung oder wenigstens Einordnung des gefundenen Bruchstücks beitragen konnten. Theoretisch wurden einem Studenten sechs Monate Zeit für eine Magisterarbeit gewährt, aber Richard ahnte, dass er bei diesem Thema nicht ohne eine Verlängerung auskommen würde.

      Zumindest dann, wenn er sich weiterhin vor der Arbeit drückte. Resigniert legte Richard die Kopie zur Seite und schlug den Kaminski auf.

      Es ist allgemein bekannt, dass sich geisteswissenschaftliche Sekundärliteratur und insbesondere die über historische Werke nur selten durch eine ausgefeilte Dramaturgie auszeichnet. Dieses Buch aber übertraf alle Erwartungen. Es war nicht einfach nur langweilig, es war praktisch unlesbar. Jeder einigermaßen normale Mensch hätte es spätestens nach 30 Sekunden zur Seite gelegt, falls er es versehentlich in die Hände genommen hätte. Auch Richard fühlte sich nach kurzer Zeit wie unter dem Einfluss eines überdosierten Schlafmittels, und das um so mehr, da er nichts entdeckte, das sein Thema berührte. Theophanes Confessor, mit dem sich Kaminskis Werk im Wesentlichen beschäftigte, war zwar ein Mystiker gewesen, aber keiner, der in seinen Träumen das Paradies erblickte. Für ihn hatten nur Sünde, Verfehlung und Höllenfeuer existiert. Sein unbekannter Nachfolger, Theophanes Continuatus genannt, hatte sich überhaupt nicht mit der Mystik befasst, ihn zeichnete vielmehr ein Hang zum WeltlichDramatischen aus. Sein Interesse hatte Morden, Intrigen und anderen Schurkereien gegolten. Richard musste unwillkürlich schmunzeln, als er die Abbildung eines Originalpergaments betrachtete. Sogar die Schrift des Theophanes Continuatus wirkte dramatisch mit ihren hohen Strichen, die ihm auf sonderbare Weise vertraut erschienen. Gelangweilt blätterte er weiter und versuchte, sich auf die faden Gedankengänge eines Paul Kaminski zu konzentrieren, doch in seinem Inneren hörte er die Musik von Zimbeln und quäkenden Flöten, und er stellte sich vor, wie die schöne Theophanu in der Schenke tanzte, in der Kaiser Romanos sie zum ersten Mal erblickt hatte. Wie mochte diese Dame wohl ausgesehen haben, dass ihr gleich drei Kaiser verfallen waren? Schlank oder eher ein wenig mollig? Mittelgroß oder eher zierlich? Von welcher Art war das Schönheitsideal der Byzantiner gewesen?

      Auf jeden Fall musste sie mit großen Augen und langen schwarzen Haaren gesegnet sein, wie Darstellungen byzantinischer Künstler aus der fraglichen Epoche vermuten ließen …

      „Mit Dank zurück“, unterbrach die korpulente Kommilitonin Richards Träumereien und legte den Ostrogorsky auf den Tisch. Dann machte sie sich auf den Weg zu den Regalen, um die Bücher, mit denen sie gearbeitet hatte, wieder auf ihren Platz zu stellen.

      Eigentlich hätte sie den Ostrogorsky gleich mit aufräumen können, dachte Richard und schaute seiner Kommilitonin hinterher. So hat Theophanu bestimmt nicht ausgesehen, überlegte er und ließ seinen Blick über die Anwesenden streifen, bis er endlich eine junge Frau ausgemacht hatte, die seinen Fantasien wenigstens einigermaßen entsprach. Sie saß einige Tische weiter vorn, wirkte allerdings eher groß, nicht zierlich, wie es von der legendären byzantinischen Kaiserin eigentlich anzunehmen war. Aber Richard fühlte sich sowieso nicht in der Lage, die Gestalt der Dame genauer zu beurteilen, konnte er doch lediglich den oberen Teil ihres Rückens betrachten, und auch die Farbe ihrer Haare blieb ihm ein Rätsel. Die Unbekannte hatte sie unter einem exotisch anmutenden Tuch versteckt, das mit merkwürdigen pflanzlichen Ornamenten bestickt war. Hatten nicht auch die alten Byzantiner in gewissen Phasen ihrer Geschichte ähnliche Ornamente benutzt?

      Die junge Dame warf einen Blick in ein Buch zu ihrer Seite, so dass Richard nun das Profil ihres Gesichts beobachten konnte. Es erschien ihm recht ebenmäßig, und sie besaß tatsächlich große Augen, wirklich schöne große Augen. Neugierig wartete Richard darauf, dass sich das Objekt seiner Betrachtung vollständig zu ihm umwenden würde, doch da setzte sich ein Student mit besonders breiten Schultern vor ihn und versperrte ihm die Sicht. Richard murmelte einen lautlosen Fluch, aber seine Vernunft ließ ihn einsehen, dass es so wohl am besten für ihn war. Schließlich hatte er noch einen ganzen Stapel Arbeit vor sich liegen.

      Doch die Unbekannte ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Warum trug sie dieses Tuch? Stammte sie aus einem anderen Land? Aber aus welchem? Richard richtete sich auf, um über den Breitschultrigen hinwegzulinsen, doch der Tisch, an dem die geheimnisvolle Frau gesessen hatte, war leer. Aus den Augenwinkeln heraus glaubte Richard wahrzunehmen, wie eine hochgewachsene Gestalt gerade auf einer der Treppen verschwand, die auf die obere Ebene des Lesesaals führten.

      War sie es? Richard kämpfte einen Moment mit der Versuchung, ihr hinterher zu eilen, doch dann rief er sich zur Ordnung und griff wieder nach seiner Lektüre. Er hatte sich schon lange genug ablenken lassen. Es wurde Zeit, dass er endlich ans Werk ging.

      Aber heute war wohl nicht sein Tag. Lange blätterte er in dem Kaminski, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Schließlich legte er das Buch zur Seite. So funktionierte es nicht. So würde er noch heute Abend hier sitzen, ohne einen Deut vorangekommen zu sein. Richard kramte missmutig nach der Kopie des Textbruchstücks aus Edirne und betrachtete die ihm merkwürdig geläufigen Schriftzeichen. Wie sollte er nur einen roten Faden für sein Thema finden? Sollte er jemanden um Hilfe bitten? Vielleicht seinen Kollegen Günther Mehl? Oder seinen Professor, der das Thema betreute? Oder hätte er sich nie auf diese Magisterarbeit einlassen sollen? Resigniert wollte Richard das Papier zur Seite legen, doch dann hielt er unvermittelt inne. Diese Schrift, diese hohen Striche, warum hatte er ständig das Gefühl, er habe sie schon einmal gesehen?

      Und plötzlich wusste er, warum. Von einem Moment auf den anderen war er hellwach. Die Kaiserin, der General, der Mord an Kaiser Nikephoros, die korpulente Kommilitonin, die schöne Unbekannte, Richard hatte sie alle innerhalb eines Augenblicks vergessen. Er schnappte sich den Kaminski und blätterte aufgeregt zu der Abbildung des Dokuments von Theophanes Continuatus.

      „Das gibt es doch nicht“, murmelte er und hielt den Atem an. Die Schriftzüge stimmten beinahe völlig überein. Der Text über das Paradies wies einige verzerrte Buchstaben auf, die Zeichen drängten sich dichter aneinander, als wäre der Autor bei seiner Beschreibung in großer Eile gewesen. Aber ansonsten waren die Schriften identisch. Die gleiche Hand hatte sie zu Papier gebracht, ohne jeden Zweifel.

      Note Eins! Das war der erste Gedanke, der Richard durch den Kopf schoss. Und wirklich, das, was er gerade entdeckt hatte, war eine kleine Sensation. Er hatte den unbekannten Text einem bekannten Autor zugeordnet! Die Aufgabe, die ihm seine Magisterarbeit stellte, war praktisch gelöst! Nun musste er nur noch die Werke des Continuatus durcharbeiten, seine These absichern und er konnte seinen Hoffnungen auf eine großartige Universitätskarriere freien Lauf lassen.

      *

      „Ich wäre mir da gar nicht so sicher.“ Günther Mehls Anmerkungen waren bestens geeignet, Richards jugendlichen Optimismus nicht über die Ufer treten zu lassen. „Einmal weiß man nichts Genaues über Theophanes Continuatus und seine Chroniken. Es kann gut sein, dass sie von vier oder fünf verschiedenen Autoren stammen, die sie irgendeinem völlig unbedeutenden Schreiberling diktiert haben. Der letzte Band der Chronik wird inzwischen allgemein Kaiser Konstantin Porphyrogennetos zugeschrieben. Und dann passt dein Text nicht zu dem, was Theophanes Continuatus in seinen Historien verfasst hat“, fuhr er fort. „Falls es nur ein Autor war. Er hat zwar immer versucht, recht dramatisch zu wirken, und vielleicht auch manchmal