Die nächste Szene will ich ausführlicher schildern: Ein Paar kam wegen erheblicher psychischer Probleme des Mannes zur zweiten Sitzung. Der Anlass einer kürzlichen Eskalation des Konflikts ihrer Partnerschaft war zuvor noch nicht angesprochen worden. Das Paar hatte die beiden Kinder im Alter von sechs und acht Jahren mitgebracht. Als die Sitzung beginnen sollte, erklärten die Eltern den Kindern, dass sie weiter im Wartezimmer spielen sollten, aber doch jederzeit nachkommen könnten. Im Sitzungsraum äußerte ich die Vermutung, dass sie die Kinder beruhigen wollten für den Fall, dass diese angesichts der neuen Umgebung im Wartezimmer Angst bekämen, was sie bestätigten. Daraufhin eröffnete ich ihnen, dass nach all meiner Erfahrung nicht die Angst der Kinder der Grund sein werde, wenn sie kämen, sondern die Angst der Eltern: Die Kinder kommen immer, sobald es Anlass gibt, die Eltern zu schützen. Das Paar nahm meine Bemerkung als Scherz auf, und beide reklamierten einhellig, dass das Wartezimmer ja außer Hörweite liege. Im weiteren Verlauf geschah aber etwas, was sie eines Besseren belehrte:
Ungefähr zwanzig Minuten nach Beginn der Sitzung gab sich der Ehemann plötzlich einen sichtlichen Ruck und kündigte an, er werde jetzt endlich sein Schweigen brechen und über die jüngsten Ereignisse in seiner Ehe reden. Bevor er jedoch beginnen konnte, kamen die Kinder in den Therapieraum und wandten sich ihrer Mutter zu. Ich schaute den Mann an, und er schaute verblüfft zurück. Nachdem die Kinder das Zimmer verlassen hatten, berichtete er, dass seine Frau ihn mit einem gemeinsamen Freund betrogen habe. Die Tochter hatte unmittelbar zuvor eine in Symbole gekleidete Anspielung darauf gemacht. Im weiteren Gespräch wurde immer deutlicher, dass der Mann Augen und Ohren verschlossen hatte gegen die Vorboten des Ehebruchs, ja dass er selbst ein Arrangement getroffen hatte, das wie eine geheime Erlaubnis erschien. Er wehrte sich heftig gegen dies Eingeständnis und war einem empörten Ausbruch nahe, der zum Abbruch der Sitzung hätte führen können, als die Kinder erneut erschienen und sich jetzt ihm zuwandten. Diesmal waren beide Eheleute darin einig, dass es sich weder um blinden Zufall noch um eine im Wartezimmer selbst ausgelöste Angst der Kinder handeln konnte. Tatsächlich waren sie ja beide Male gekommen, als es Anlass zur Sorge um die Eltern gegeben hatte. Danach erschienen die Kinder übrigens nicht mehr, sondern zeigten sich sehr ruhig und waren gewissenhaft darum bemüht, das Wartezimmer in einwandfreiem Zustand zu hinterlassen. So etwas geschieht erfahrungsgemäß nur dann, wenn Kinder mit dem Verlauf einer Sitzung zufrieden sind. Es ist ihre Art, einem Therapeuten ein Kompliment zu machen.
Auch diese Schilderung gibt nur eine von ungezählten anderen Erfahrungen wieder, die jeder Therapeut machen kann, wenn er Eltern und Kinder gemeinsam sieht, und die allesamt den Gedanken nahelegen, dass Kinder sich ganz ähnlich verhalten wie Haustiere: Sie bemühen sich nach Kräften, ihren Eltern zu helfen und etwas Bedeutsames für diese zu tun. Es scheint, als wollten sie im Dienst der Eltern nichts anderes als gut sein und als nähmen sie dabei keine Rücksicht auf ihr eigenes Wohl. Wenn zum Beispiel ein Vater sich mit starken Schuldgefühlen trägt, weil er seinen eigenen Vater verletzt und im Stich gelassen hat, dann erweist sich sein halbwüchsiger erster Sohn als ein Ausbund an Frechheit und als schamloser Provokateur. Schaut man sich die Situation des Mannes an, der als letzter von sechs Söhnen den eigenen Vater verlassen hat, um ins Ausland zu gehen, dann scheint sogar hier eine verborgene „Güte“ im Verhalten des Sohnes auf: Was dieser tut, geschieht vielleicht, um seinem Vater zu geben, was dieser im tiefsten Innern von seinem Vater erwartet, aber nicht bekommen kann. Das wäre ein fünftes Beispiel, das ich aber nicht erlebt, sondern nur einem betroffenen Klienten gegenüber gedeutet habe - mit dem Erfolg, dass dieser Mann eine von seinem Sohn erzeugte unerträgliche häusliche Situation rasch zur Zufriedenheit aller Beteiligten ändern konnte, ohne dafür mehr und anderes zu tun, als liebevoll an seinen eigenen Vater zu denken.
Insbesondere das letzte Beispiel legt einen weiteren Gedanken nahe, der aber für die anderen ebenfalls zutreffend ist: dass Kinder im Dienst ihrer Eltern spontan die Stellvertretung Dritter übernehmen und dass sie Prioritäten setzen, die mit Eigennutz nichts zu tun haben. Der Junge, dessen Frechheit ich seinem Vater als paradoxen Ausdruck von Fürsorge gedeutet hatte und von dem sein Vater in der darauf folgenden Sitzung berichtete, dass er ohne jeden erkennbaren Übergang „wie ausgetauscht“ und ein Muster an Bravheit geworden sei, dieser Junge hatte ja sein gutes Verhältnis zum Vater geopfert, um sich an dessen Schuldgefühlen zu orientieren: Der Enkel hatte mit seiner zur Schau gestellten Bosheit und Unverschämtheit das verborgene Gefühl des Vaters, nicht in Ordnung zu sein und vor dem Großvater nicht bestehen zu können, in einer Weise auf sich genommen - nicht nur, als wäre er anstelle des Großvaters für dies Gefühl verantwortlich, sondern vor allem auch, als wäre er anstelle des Vaters daran schuld.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, wird die obige Szenerie zum Ausgangspunkt eines dritten Gedankens, der ein wenig tiefer einsteigt und eine gründlichere Prüfung fordert: dass sich im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern das Problem der Verantwortlichkeit auf eine Weise konzentriert, die man vielleicht als Umkehrung, Verwechslung und Infragestellung der Vergangenheit durch die Gegenwart und als paradoxe Hierarchie zu begreifen lernen kann. Daraus würde auch verständlich, was in den Szenen zuvor unmittelbar als kindliche Fürsorge ins Auge gefallen ist.
Im folgenden werde ich zunächst einige Beispiele aus meiner therapeutischen Praxis anführen, anhand derer noch deutlicher wird, was ich meine, und die gewissermaßen darauf drängen, zu prüfen, ob es sich um eine verlässliche Regel handelt oder nicht doch nur um höchst unwahrscheinlich anmutende Seltsamkeiten. Ich beginne mit der biografischen Analyse der Trennungsproblematik eines Paares sowie mit der biografischen Analyse einer Depression, setze aber danach diese Art der Untersuchung mit anderen Beispielen fort.
2.2 Eine Entdeckung und zwei biografische Skizzen
Trennungsproblematik eines Paares
Das erste Beispiel skizziert, wie ich selbst auf diese Zusammenhänge aufmerksam geworden bin: Anfang 1993 kam ein Paar in meine Praxis, weil die Frau das Gefühl hatte, sich vom Ehemann trennen zu müssen, aber nicht sicher genug war, um den Entschluss dazu zu fassen. Sie hatte Skrupel. Bei der Betrachtung des Genogramms (Bowen, 1976), d.h. des therapeutisch aufbereiteten Familienstammbaums beider Partner (s. Abb. 2.1) stieß ich auf die merkwürdige Tatsache, dass sich die Großmutter (mütterlicherseits) meiner Patientin zu dem Zeitpunkt, als der Großvater starb, in demselben Alter befunden hatte wie die Frau jetzt. Nicht genug damit: Auch die Großmutter (mütterlicherseits) ihres Mannes hatte sich in dem jetzigen Alter seiner Frau befunden, als der zugehörige Großvater verschied. In Erinnerung an die Theorie des Fließgleichgewichts, der Homöostase, der transgenerationalen Schuldübertragung und des systemischen Ausgleichs fiel mir ein, dass es sich hier - rein hypothetisch und völlig spekulativ gedacht - um eine Ausgleichsbewegung handeln könne, welche das Paar zu vollziehen sich gedrängt fühlte, ohne eigentlich recht zu wissen, wie ihm geschah. Wenn dies der Fall war, dann hatte ich es mit einer systemisch zu deutenden Dynamik zu tun, die dem entsprach, was nach dem Urteil tiefenpsychologisch ausgerichteter Therapeuten als „das Unbewusste“ zu bezeichnen ist. Das wird unterstrichen durch die Tatsache, dass die Daten der Stammbäume den beiden gar nicht bekannt gewesen war, als sie sie für die therapeutische Arbeit zusammentrugen. Sie hatten sich diese Daten extra anlässlich der Stammbaumerhebung besorgt.
Ich wagte kaum, das Paar darauf aufmerksam zu machen, weil ich nicht wusste, womit ich ihm gegenüber meine Vermutung begründen sollte. Die Deutung lautete, wenn man sie auf den Boden einer spekulativen Idee stellte, folgendermaßen:
Die Enkelin vollzieht, indem sie sich vom Ehemann trennt, im Dienst ihrer Mutter eine rächende Ausgleichsbewegung für das, was die Großmutter aus Sicht der Mutter durch den Tod des Großvaters hatte erleiden müssen. Und der Enkel erleidet, indem er von der Ehefrau verlassen wird, im Dienst seiner Mutter eine büßende Ausgleichsbewegung für das, was sein Großvater der Großmutter angetan hat, als er verstarb. Der Enkel ist in dieser - nach dem Talionsgesetz, d.h. nach dem Prinzip der Rache und der Buße verlaufenden - Umkehr von Geben und Nehmen Stellvertreter beider Großväter mütterlicherseits,