Die leibliche Grundproblematik ist vergleichbar mit der Frage, wie es möglich sei, trotz Gravitation aufrecht gehen zu lernen. Und dort zeigt sich: Die Wirkung der Gravitation kann den aufrechten Gang nicht verhindern, aber auch nicht erzeugen. Um Gehen zu lernen, muss das Kind zu allererst auf seine Fähigkeiten vertrauen. Und diese Fähigkeit wohnt ihm inne. Sie kann ihm von nirgends her eingepflanzt werden, wenn nicht durch Zeugung und Geburt. Sie stammt von den Eltern. Es ist die Macht der Liebe, die sich in der Hoffnung auf die Güte des eigenen Lebens offenbart und die auf den Zweck der Erfüllung der elterlichen Liebe hin orientiert ist. Im Zusammenleben, in der gegenseitigen Abhängigkeit und Unabhängigkeit der Menschen wirkt unweigerlich ein Vertrauen auf das Gelingen des Lebens. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich den Zeitpunkt und den Ort von Erkrankungen unter familiendynamischen und systemischen Gesichtspunkten anschaut. Dann nämlich erscheint eine Erkrankung oder die Krise einer Paar-beziehung wie eine Zwangsvollstreckung, bei der die Einlösung eines fremden Wechsels ansteht.
Die Gesetzmäßigkeit derartiger Komplikationen leiblicher Haftungen vorausgesetzt, lässt sich das Prinzip der leiblich verfaßten Grundordnung folgendermaßen ausdrücken: Der Lebensinhalt eines Kindes liegt in seinem Ursprung begründet, das heißt, in der Liebe der Eltern, der es seiner Entstehung verdankt. Er besteht in der Aufgabe des Kindes, sein Leben in Achtung der elterlichen Liebe zu führen, damit offenbar wird, dass es ein Recht, etwas Gutes sei, dies Leben empfangen zu haben. Aus dem Zweck, für die Liebe der Eltern zu haften, ergeben sich die Lebensthemen eines jeden Menschenkindes als gewissermaßen angeborene Stellvertretungsaufgaben: Ein Kind haftet seinen Eltern gegenüber stellvertretend für die anderen Personen, mit denen die Eltern in ihrem Leben nicht ins Reine gekommen sind. Durch diesen Zweck wird es in seinem Leben spontan geleitet und bewegt. Diesen Zweck in seiner Tiefe zu verstehen, ist aber oftmals so schwer, dass ein Kind daran scheitert. Die Quellen und den Lauf des Gelingens und Scheiterns beispielhaft darzustellen und aufzuzeigen, inwiefern das Prinzip gilt, wonach jedes Kind für die Erfüllung der in ihm wohnenden Liebe mit seinem ganzen Leib, mit Haut und Haaren haftet, ist mit den Mitteln der von mir entwickelten Art von Biografik möglich. Darum habe ich mein Buch „Familien-Biografik“ genannt.
Solange Heilkunde sich nicht vornehmlich auf Biografik sondern auf Energetik zu stützen versucht, ähneln ihre Bemühungen denen eines Vogelpärchens, dem der Kuckuck sein Ei ins Nest gelegt hat: So sehr die beiden sich auch verausgaben, um angesichts der maßlosen Gier des seltsamen Nestbewohners ihren Brutpflichten nachzukommen - es will ihnen einfach nicht gelingen, ihre wahren Jungen aufzuziehen. Diese liegen längst entseelt unter dem Baum und können sich nicht mehr bemerkbar machen.
Dies Bild drängt sich auf, wenn man von außen betrachtet, wie eine mit den technizistischen Scheuklappen der Naturwissenschaften versehene Medizin über sich hinaus wächst in dem Bemühen, Heilwirkungen zu entfalten. Ihm gegenüber verhält sich der Leib eines Menschen wie ein Kuckucksei und entwickelt sich völlig anders, als die ratlosen Eltern es sich wünschen. „Weiß der Kuckuck, was noch alles nötig ist, damit er endlich Frieden gibt und es gut sein lässt!“ So etwa könnte der Ausruf der entnervten, von Erschöpfung bedrohten Mediziner vor dem Moloch der mit jedem neuen Heilmittel weiter ausufernden Krankheitsunbilden lauten.
Aus dem Blickwinkel biografischer Heuristik freilich verwandeln sich die Metaphern der Leiblichkeit und erhalten eine versöhnlichere Bedeutung. Meine Behauptung lautet nämlich: Der menschliche Leib verhält sich nicht wie ein Kuckucksei sondern wie eine Kuckucksuhr. Und auf Krankheit bezogen, lässt sich präzisieren: Das Symptom ist wie der Kuckuck, der zu bestimmten Zeiten aus seinem Verschlag im Innern der Uhr herauskommt und ruft: „Guck, guck!“ Dieser seltsame Vogel, dem der Volksmund einigen Raum für irrsinnige Geschichten zugebilligt hat, ist offenbar gemeint, wenn es heißt, jemand habe einen Vogel. Er fordert auf seine Weise dazu auf, genau hinzuschauen, was die Stunde geschlagen habe. Das wiederum, so werde ich zeigen, ist ohne profunde Kenntnis des Vergangenen nicht möglich.
Es ist aber auch nicht möglich, ohne die grundlegenden Gesetze anzuerkennen, nach denen das Leibgeschehen verläuft. Vor allem nämlich ist das, was da betrachtet werden muss, an sich unsichtbar - nicht etwa nur, weil es schon längst der Vergangenheit angehört, sondern vor allem darum, weil es gefehlt hat, weil es nicht geschehen, nicht Fakt geworden ist. Das eben ist das Irrende und Irreführende an der Aufforderung des Kuckucks: dass es um Schuld geht, um eine Schuld nämlich, die zunächst in gar nichts anderem besteht als darin, dass eine Verantwortung nicht wahrgenommen bzw. einer Verpflichtung nicht entsprochen worden ist. (Allein in diesem weiteren, auch primären Sinne, den ich auf Seite 290 eingehender erläutere, wird der Schuldbegriff im folgenden von mir verwendet, wenn er im Text unkommentiert in Anführungszeichen auftaucht.) Der Kuckuck steht als Fabeltier für ein Schulderbe oder für eine Erbschuld: Er legt seine Eier in fremde Nester. Wenn das Kuckucksjunge ausgeschlüpft ist, wirft es die rechtmäßigen Jungen aus dem Nest und gebärdet sich unersättlich, bis es flügge wird und zur Plage einer nächsten Generation fremder Eltern. So ist das Verhalten des Kuckucks im Volksmund nicht nur zum Synonym für jede Art von Verrücktheit geworden, sondern für das Unheimliche, Verhexte und Vertraxte des Zusammenhangs von Geburt, Tod und „Schuld“. Tatsächlich gibt es einen für alle Familienbiografien verbindlichen Zusammenhang zwischen Unsterblichkeit und Schulderbe einerseits, Schulderbe, Sünde und Krankheit andererseits.
Um den Geschichten vom Kuckuck noch ein Stück zu folgen: Woran wir uns erinnern sollen, wenn wir den Schall der Kuckucksuhr - von Stunde zu Stunde nachdrücklicher, am nachdrücklichsten zur Mittagszeit und um Mitternacht - hören, das ist die vergangene Schuld, die uns ins Nest unseres Lebens gelegt ist, die wir auszubrüten uns anschicken und die immer gefräßiger wird, je mehr wir uns um sie bemühen, ja die uns unserer Nächsten und Liebsten beraubt. Ein solches Verständnis für die Zusammenhänge verlangt auch der „Kuckuck“, den der Gerichtsvollzieher anheftet im Falle von Zahlungs-unfähigkeit und fortbestehender Schulden. Er macht einen potentiellen neuen Eigentümer der betreffenden Gegenstände darauf aufmerksam, dass ihnen eine unabgelöste Verpflichtung anhaftet, die von seinem Besitzer zu zahlen sei.
Eine weitere Beziehung zwischen Kuckuck und Kuckucksuhr wird durch den Kinderspruch deutlich: „Lieber Kuckuck, sag` mir doch: Wieviel` Jahre leb` ich noch?“ Diese Frage richtet sich, halb ernst, an den sich verbergenden Kuckuck, der in der Ferne zu hören ist. Gezählt wird dann die zufällige Häufigkeit seiner Rufe. Dieser spielerisch gehütete Aberglauben rührt an die von Aristoteles hervorgehobene geheimnisvolle Beziehung zwischen Seele und Zahl. In der Beziehung zwischen Tod, „Schuld“, Symptom und Zeitstruktur des Lebens wirkt, wie ich zeigen werde, tatsächlich ein Gesetz von Zahlenverhältnissen, das sich aufklären lässt. Das heimlich-intuitive Verständnis geht mit dem Gefühl des Unheimlichen, Tabuisierten einher. Und das ist es vor allem, was das erwähnte Kinderlied mit seinem „Simsalabim-samba-saladu-saladim!“ andeutet : dass hier vom Magischen, von Hexerei die Rede ist - d. h. von einer als überwältigend erfahrenen, unbegreiflich erscheinenden, unendlichen Verwandlungsmacht des Leiblichen. Das spielt auf eine Macht an, die im Ruf und Leumund des Kuckucks vom Volk intuitiv erfasst, wenngleich nicht klar verstanden, nicht begrifflich, sondern nur bildhaft treffend ausgedrückt wird.
Das früher beliebte Lied „Der Kuckuck und der Esel“ hebt, ganz nach dem Geschmack der Kinder, den Zusammenhang von Hören, Sehen und Erkennen, aber auch warnend den Zusammenhang von Kulturlosigkeit und Streitsucht hervor. Es parodiert die Ähnlichkeit von „Kuckuck“ und „Esel“, wenn diese einen komischen Streit darüber austragen, „wer wohl am besten singe“. Dies Lied führt die Kleinen, die noch ganz in ihrer Leiblichkeit befangen sind, auf mitreißende Weise zum genauen Hinsehen („Guck, guck!“) und zum genauen Hinhören („I-aah“). „Dummheit“ ist ja ursprünglich Taubheit. In die weit weniger faszinierenden Worte von Erwachsenen übersetzt, lautet die Moral des Liedes: Streit entsteht zwischen denen, die nicht bereit sind, jenes Unsichtbare wahrzunehmen, das sich allein in Sprache offen dartun lässt. Missklang entsteht, wenn man die Worte der Wissenden mit den Lauten von Tieren gleichsetzt. Wer das Sprechen auswendig zu lernen versucht,