Der Leibbegriff hat eine vielschichtige Tradition. Den „Leib“ vom „Körper“ zu unterscheiden, dient dazu, den lebendigen Organismus vor Verwechslungen mit einem Leichnam zu bewahren. Der Leib ist grundsätzlich der lebende Organismus: der „beseelte Körper“, die „bekörperte Seele“, der „Körper“, der der Seele seine Form schenkt, zugleich die „Seele“, die den Körper mit Inhalt erfüllt. Sobald es nämlich nicht mehr um physikalische „Körper“ geht, sondern um lebendige „Leiber“, verändert sich zwangsläufig die Bedeutung der Rede von Raum und Zeit. In einer belebten Welt zeigt sich, dass Raum und Zeit eben nicht, wie Kant (1787, 69 ff) meinte, bloße „Formen der Anschauung“ sind, sondern in der Tat Ordnungsmächte. Lebensraum und Lebenszeit stellen keine bloßen Einteilungsschemata für eine beliebige Anordnung von Körpern dar. Vielmehr wirken sie als Kräfte, die den historischen und biografischen Prozessen des Lebens die Bedeutung vorgeben und einer erkennbaren leiblichen Ordnung Geltung verschaffen.
Leib und Leben, die wir von unseren Eltern erhalten haben, sind kein Blankoscheck, sondern eine Mischung aus Guthaben und Hypothek. Dass das so ist, lässt sich prüfen. Es hängt damit zusammen, dass unsere Eltern mit ihren Eltern in einem Austausch stehen oder gestanden haben, der spätestens durch ihre Partnerschaft miteinander mehr oder weniger drastisch unterbrochen worden ist. Es hängt außerdem damit zusammen, dass die Eltern als Partner zueinander in einem Austausch stehen oder gestanden haben, der allerspätestens durch unsere Geburt ebenfalls unterbrochen bzw. modifiziert worden ist: Was die Eltern dann mit ihren Eltern (und Geschwistern) noch nicht ins Reine gebracht haben und was sie untereinander nicht ins Reine bringen, das wird unbewusst auf einem imaginären oder virtuellen Konto verbucht und wirkt im Leben ihres Kindes entweder als Soll oder als Haben. Und es zeigt sich, dass es keineswegs gleichgültig ist, ob dies Kind das erste, zweite oder dritte Kind der Eltern ist. Für diese unbewusste Buchführung (Boszormenyi-Nagy u. Spark, 1983) ist auch nicht gleichgültig, ob es sich dabei um den ersten, zweiten usw. Sohn bzw. um die erste, zweite usw. Tochter handelt. Ja, häufig ist es sogar von großer Bedeutung, ob das erste Kind ein Mädchen oder ein Junge wird, ob danach ein Kind des anderen Geschlechts kommt usw. Das alles wird von dem betreffenden Neugeborenen spontan erfahren, ohne dass es sich darüber Rechenschaft ablegen könnte. Und im weiteren Leben kommen weitere Erfahrungen derselben Art hinzu, wenn nahe Angehörige der Eltern sterben oder auf andere Weise dem lebendigen Austausch verloren gehen.
Der Austausch selbst steht unter dem impliziten, unbewussten, also gleichsam „objektiven“ Thema, inwiefern es den Beteiligten gelingt, die Güte des Lebens zur Geltung zu bringen. In jedem Kind, das entsteht, lebt die Hoffnung darauf, dass die Liebe, der es sein Leben verdankt, sich erfüllt und dazu führt, die Welt reicher zu machen und den Reichtum der Welt zur Entfaltung zu bringen. Zuweilen gewinnt man freilich auch den Eindruck, dass die Hoffnung der Eltern in dem Augenblick, in dem das Kind entstanden ist, bereits verloren sei. Das aber heißt ja nicht, dass das Kind frei wäre von dieser Hoffnung - im Gegenteil: Es trägt dann die ganze Last, die die Eltern ihm in ihrer Hoffnungslosigkeit übertragen haben. Ein solches Kind ist im allgemeinen völlig überfordert und hält sich mit einem Hauptteil seiner Kraft an andere Menschenkinder, um die Hoffnung, die ihm übertragen worden ist, angesichts der eigenen Schwäche dennoch zur Geltung zu bringen.
Das ist der Kern eines blinden historischen Prozesses, dem wir auf die Spur kommen, wenn wir die Stellvertretungsfunktionen untersuchen, die Menschen zunächst innerhalb von Familien, dann aber auch außerhalb von Familien füreinander erfüllen. Man kann diese Funktion als Buchungs- und Umbuchungsvorgänge beschreiben, wenn man beachtet, dass es dabei nicht um Geld, sondern um die Erfüllung der Liebe zur Welt, zu den Eltern und zum Leben geht. Diese Art der Betrachtung liefert den Schlüssel zur Erkenntnis jenes blinden Treibens emotionaler Beziehungen, das von Sigmund Freud als „Triebgeschehen“ bezeichnet worden ist und das im Untertitel meines Buches „Schicksalsbindung“ genannt wird.
Freud hat das Triebgeschehen theoretisch auf unser physisches Erbe zurückzuführen versucht. Damit hat er angedeutet, dass es keine Kleinigkeit sei, daran etwas zu ändern. Modernere, darum nicht unbedingt weitsichtigere Theoretiker haben diesen materialistischen Grundgedanken aufgegriffen und auf die Erfolge der Genforschung bezogen - in der Hoffnung, dass es vielleicht möglich sein werde, einen besseren Typ Mensch zu züchten als den, der es seit Jahrtausenden nicht verstanden hat, Frieden mit der Welt, mit den Anderen sowie mit dem eigenen Leben und Sterben zu schließen. Ich halte diese Denkrichtung für eine Illusion und meine stattdessen, dass es sich um Grundfragen der Kultur, nicht der Natur des Menschen handelt, dass es hier also nicht um offene Fragen der Naturwissenschaften geht, sondern um offene Fragen des Wissens um das Wesen der menschlichen Kultur.
Diese Auffassung habe ich durch meine Tätigkeit als Arzt und Therapeut gewonnen. Die entscheidende Erfahrung ist die Entdeckung gewesen, dass zeitliche Rhythmen im Leben der Menschen eine schicksalhafte Bedeutung haben, dass aber diese zeitlichen Rhythmen, die sich quasi naturwissenschaftlich berechnen und bestimmen lassen, insofern einen historischen Charakter haben, als sie den Verlauf des Lebens unserer Vorfahren abbilden. Man kann die Beschäftigung mit solchen Rhythmen durchaus mit der Betrachtung der Jahresringe von Baumstämmen vergleichen: In ihnen findet sich die Erinnerung an die wechselvollen klimatischen Verläufe vieler Jahre. Etwas ähnliches findet sich bei der Betrachtung des Leibgeschehens: In unseren Leibern sind die Biografien unserer Familien enthalten, als bildeten die Lebensläufe unserer Vorfahren darin virtuelle Jahresringe.
Derartige Zusammenhänge zwischen den Biografien der Mitglieder von Familien werden verständlich, wenn man sie auf ebenjene Buchungen und Umbuchungen, Kredite und Hypotheken bezieht, die in den Ordnungen und Unordnungen der Liebe zwischen den Menschen heimlich zur Geltung gelangen. Das Heimliche ist das Gesetzmäßige. Das Verschlossene zu enthüllen, das Chiffrierte zu entschlüsseln heißt: das Gesetz, das darin wirkt zu erkennen. Erkennen und berechnen lassen sie die Zeitpunkte und die Orte, wann bzw. wo ein Kredit fällig ist oder ein Guthaben für die Auszahlung bereit liegt. Die Metaphern des Geldverkehrs sind stimmig, insofern das Geld als materialisierte Gestalt von Liebe angesehen werden darf: In ihm ist die Verpflichtung eines im Tausch systematisch ausgeschlossenen, vorerst beliebigen, unbekannten Dritten symbolisiert, dem schon vorweg und blindlings die Aufgabe auferlegt wird, die Schuld des Geldgebers gegenüber dem Geldnehmer zu einem späteren Zeitpunkt zu begleichen. Der Begriff der Liebe konkretisiert sich im Zweck des Tausches. Er bedeutet: wechselseitige Verleihung von Lebensrecht. Und die Funktion des Geldes ist die Vermittlung dieses Zwecks im Sinne eines Aufschubs seiner Realisierung bis zu dem Zeitpunkt und bis an jenen Ort, wo die Hoffnung des Geldnehmers auf Gewährung von Lebensrecht durch den Nächsten, d. h. durch den nunmehr nahen Dritten erfüllbar wird. Diese Hoffnung, aber auch diese Sicherheit sinnfällig zu machen, sinnlich darzustellen, zum festen Besitz eines Anteils am Sinn des gesellschaftlichen Lebens zu deklarieren, ist die im Geldverkehr symbolisch gewahrte Funktion des Geldes. Insofern ist Geld an sich Kredit. Und Kredit ist sozial garantiertes Vertrauen, institutionalisierte Vertrauenswürdigkeit. Um diese zu verkörpern, ist ein politisch hochentwickelter Stand der Arbeitsorganisation Voraussetzung.
Was gesellschaftlich geschieht, ist auf politischer Ebene eine bewusste Umsetzung und Formverwandlung dessen, was auf leiblicher Ebene immer schon bewusstlos, spontan geschieht. So betrachtet, stellt politische Ökonomie den Versuch dar, leibliche Gebundenheit, wo möglich, durch politisch-moralische Verpflichtung zu ersetzen und dieser den Charakter juristisch sanktionierter vertraglicher Bindung zuzuweisen. Auf dem Weg des Humanismus soll eine unwillkürliche leibliche Haftung durch willensabhängige vertragliche Bürgschaft übertroffen werden. Das ist eine Utopie. Um deren Berechtigung, aber auch deren Grenzen zu verstehen und die gesetzhaften Bedingungen politisch-ökonomischer, juristischer und pädagogischer Rationalität zu erkennen, ist es erforderlich, die grundlegenden Gesetze leiblicher Haftung biografisch zu untersuchen.
Ob nun aber die Erkenntnis biografischer Gesetzmäßigkeiten