1.2 Das Leibhaftige als Erkenntnisproblem
Das verwirrend Chaotische, aller Logik Spottende des Leiblichen wahrzunehmen, führt zu einer ganz anderen Art von Wissen als die Erforschung der Bewegungsgesetze von Körpern: Die Naturwissenschaften befinden sich auf der Suche nach den Gesetzen einer utopischen Energetik, die es dem Menschen erlauben soll, die dem Kosmos innewohnenden Kräfte zu verwenden, um beliebige Bewegungen der Körper innerhalb des Weltgetriebes zu vollziehen oder zu veranlassen. In den Gesetzen, nach denen die Naturwissenschaften fahnden, bleibt der Unterschied zwischen Gut und Böse von der Art ihrer Begrifflichkeit her undenkbar. Darum sind diese Gesetze zum Verständnis dessen, worum es im Leben geht, in letzter Instanz untauglich. Sie zu erkennen, hilft nicht, Verantwortung wahrzunehmen, sondern erhöht lediglich den Grad an wahrnehmbarer Verantwortlichkeit. Die medizinische Technik zum Beispiel ist eine heilkundliche Anwendung der Naturwissenschaften. Die für die Entwicklung der Heilkunst entscheidende Frage aber, ob automatisch durch machtsteigernde Medizintechnik Glück und Würde der Menschen vermehrt und Gerechtigkeit im Zusammenleben verbessert werden, weckt nicht nur Skepsis sondern ist rundweg zu verneinen. Was für den Bezug zwischen Naturwissenschaften und Medizin gilt, das gilt ebenfalls für den Bezug zwischen Naturwissenschaften und allen anderen Kulturwissenschaften, die man ja zurecht auch als „politische Wissenschaften“ bezeichnen kann: für Philosophie, Jura, Ökonomie, Pädagogik usw..
Es zeigt sich aber insbesondere im Umgang mit Kranken und mit Krankheit, dass in Bezug auf unser Wohlbefinden erforschbare Gesetze wirken, die unser Leben unter nachprüfbare Bedingungen stellen und die von uns die Anerkennung von realer, wenn auch in Maßen veränderlicher Ohnmacht fordern. Es liegt nahe, diese Gesetze unter dem Begriff „Biografik“ zusammenzufassen, weil sie sich aus der Erforschung von Lebensläufen erschließen. Mit meinem Buch unternehme ich den Versuch, den Weg zu beschreiben, auf dem diese - anthropologisch zu nennende - Forschung fruchtbar gewesen ist und weiter furchtbar sein wird, und ich möchte darin die Grundsätze darlegegen, die ich als wegweisend erachte. Für die spezifischen Verhältnisse der menschlichen Lebenswelt, in der die Unverfügbarkeit der Toten und die Hierarchie der Ursprungsordnung unveräußerbar ist, gilt:
Die Gesetze der Biografik sind den Gesetzen der Energetik übergeordnet, nicht etwa umgekehrt, wie insbesondere in der wissenschaftlichen Medizin seit dem 19. Jahrhundert vorauszusetzen üblich geworden ist.
Indem die Heilkunde sich biografisch orientiert, wird sie primär zur einer Kulturwissenschaft und gelangt in eine Position, vor der aus es überhaupt erst möglich wird, die Bedeutung der Naturwissenschaft angemessen zu würdigen.
Die in der kindlichen Liebe begründete leibliche Haftung aller Kinder ist das Mysterium, das sämtlichen Phänomenen des sogenannten „Leibhaftigen“ zugrunde liegt. Und um den Zusammenhang dieser Phänomene aufzuspüren, muss man sozusagen zum Fährtenleser werden und die Spuren des Leibhaftigen erkunden.
Mein Buch ist konzipiert als eine Einladung, sich auf eine ungewohnte Perspektive und Denkweise einzulassen, die in erster Linie aus dem Umgang mit Kranken stammt und jedenfalls auf Erfahrungen im Umgang mit Kranken gegründet wird. Die einzelnen Kapitel entfalten alle für sich ein einziges Grundprinzip und sind insofern einzeln lesbar. Dennoch gibt es eine logische Reihenfolge des Aufbaus. Der Gesamttext gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil, der mit diesem ersten Kapitel bereits begonnen hat und ein weiteres Kapitel umfasst, entspricht einer Einführung in die Thematik der Leiblichkeit und leiblichen Gebundenheit. Im zweiten Kapitel stelle ich anhand einiger Krankengeschichten die überraschenden Phänomene vor, auf die ich als Arzt gestoßen bin und deren Zusammenhänge aus ganz praktisch-therapeutischen Gründen beschrieben und verstanden werden müssen.
Der zweite Teil, der aus vier Kapiteln besteht, ist nach den drei großen Fragen einer heilkundlich orientierten Biografik gegliedert: „Warum ausgerechnet jetzt?“, „Warum ausgerechnet hier?“ und „Warum gerade so?“. Die vier Kapitel, die hier zusammengefügt sind, schreiten vom Abstrakten zum Konkreten fort. In ihnen werden diejenigen unter den LeserInnen, die der praktischen Überprüfbarkeit und dem therapeutischen Wert meiner Beobachtungen und Erfahrungen das größte Interesse entgegen bringen, die Kernaussagen des Buches finden:
Im dritten Kapitel beginne ich mit jenem sozusagen Übersinnlichen, jedenfalls mit dem Abstraktesten, ohne dessen Beachtung meine Untersuchungsergebnisse bodenlos erscheinen müßten. Und zwar behandle ich hier die Fragen, die uns die Zeit - wie es eine Dichterin wunderbar treffend gesagt hat - als „blinde Führerin“ stellt (A. Michaels, 1997, 13): Ich werde nachweisen, dass in den Brüchen des Lebensprozesses Bewährungsproben der Liebe zu erkennen sind, dass in unerfüllter Liebe das stärkste Band zwischen den Generationen besteht, dass ein ausbleibender Vollzug der Liebe den Kern jeder Symptomatik bildet und dass die zeitlichen Rhythmen des Lebens den Schlüssel zum biografischen Verständnis sowie zur biografischen Erforschung symptomatischen Geschehens liefern. Dies Kapitel gipfelt in einer mathematischen Überprüfung der Präzision, mit der Altersrelationen als diachrone Mächte des Augenblicks wirken. Der zeitliche Aspekt hat bei meinem biografischen Ansatz eindeutig Vorrang. Insofern nimmt dies Kapitel eine organisierende Stellung ein. Es greift zur Illustration therapeutische Erfahrungen und Ausschnitte aus Krankengeschichten auf.
Im vierten Kapitel stelle ich in zunächst systematischer Form die Früchte vor, die sich als praktisch-therapeutisch anwendbare Erkenntnisse aus einer konsequent biografischen Methode ergeben. Es geht dabei - parallel zum zeitlichen Leitfaden - um den Bezug auf wichtige Andere, der uns in eine Fremdheit uns selbst gegenüber versetzt. Dies Kapitel gibt Antworten auf die Frage nach den Gesetzmäßigkeiten der Übertragung von Stellvertretungsfunktionen, die zu bestimmten Zeiten in Familien stattfindet: Wo ist der Ort, an dem ein Mangel aus der Vergangenheit einer Familie zur Geltung gelangt, wenn er sowohl intrafamilial als auch transfamilial als übertragene Verantwortlichkeit nachwirkt? Wie findet man diesen Ort, und mit welcher Methode kann man von der Wirkung eines Schulderbes auf den Ort der Schuldentstehung zurück schließen? Thema ist hier eine Rangordnung des leiblichen Bindungsgeschehens, die ich als Stellvertretungsordnung bezeichne.
Das fünfte Kapitel überschreitet den scheinbaren Formalismus des fünften und bietet Ansätze, um sich der besonderen Tragik und Dramatik jener typischen Lebensthemen anzunehmen, die sich als die aus speziellen kindlichen Stellvertretungsfunktionen resultierenden Kernkonflikte der Persönlichkeiten darstellen. Gegenstand sind hier die in ihren Ursprüngen schwierig zu diagnostizierenden und in ihren zähen Symptomatiken schwierig zu behandelnden Komplikationen des leiblichen Stellvertretertums. Diese ergeben sich dadurch, dass die primär spielerische Zuordnung von transgenerational übertragenen Verantwortlichkeiten infolge des Fehlens von primären Stellvertretern allzu früh in einen bitteren Ernst des Lebens umschlägt. Das hat eine Überlastung der ursprünglich liebevollen Beziehung zwischen Eltern und Kindern zur Folge und führt zu nachhaltigen, zuweilen lebensbedrohlichen, häufig lebenslangen, situationsabhängigen Beschwerdebildern.
Das sechste Kapitel vermittelt einen konkreten Einblick in die spontane Ausprägung und Zuordnung von Stellvertretungsfunktionen. Thema ist deren konstitutive Vergeblichkeit samt den daraus resultierenden symptomatischen Komplikationen der Ohnmacht. Hier wird die räumliche Dimension der Lebensordnungen zum Schwerpunkt der Untersuchung, auch wenn der zeitliche Aspekt nicht verloren geht. In diesem Kapitel wird gleichsam sinnlich nachvollziehbar, wie das gesetzmäßige Scheitern von Stellvertretungsfunktionen sich anfühlt und erlebt wird. Das siebte Kapitel zeigt auch auf, wie die primären transgenerationalen Gebundenheiten sekundär in transfamiliale Bindungen umschlagen und wie auch die letzteren nach phänomenologischen Methoden aufgeklärt werden können. Dies Kapitel illustriert die Ursprünge der Vorstellung, dass die Welt der Leiber eine Welt des Theaters und das Leben ein bloße Bühne sei. Aber doch bleibt es das Ziel meiner Untersuchungen, Wege aus einer Welt des verwirrenden Scheins zu finden. Es soll sich darin zeigen, dass es in ernsten Situationen nicht nur nötig sondern auch möglich ist, innerhalb des Reichs der Lebenden von der Bühne abzutreten.
Der dritte Teil soll das geheimnisvoll Andersartige der biografischen Betrachtungsweise im Zusammenhang darstellen und den Unterschied der dabei ins Auge fallenden Gesetzmäßigkeiten