Zwielicht Classic 13. Michael Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745092431
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Last zu fallen. Und das wollte Gundi unbedingt vermeiden. Joschas letzte Vorsorgeuntersuchung hatte ergeben, dass das Risiko für eine Bluthochdruckkrise sehr hoch war. Er brauchte dringend einen geruhsameren Arbeitsalltag.

      Ein Knistern ertönte, als ob Spinnenbeine über Papier huschten. Sofort wirbelte Gundi herum. Kroch Frau Birger durch irgendwelche Notizzettel und Unterlagen? Oder war es nur der Wind, der durch das halbgeöffnete Fenster kam? Gundi war den Tränen nahe. Verdammt, so konnte es doch nicht weitergehen! Warum sah immer nur sie diese Höllenkreatur? Daran, dass irgendetwas Übernatürliches vorging, zweifelte Gundi nicht mehr. Aber was …

      „Schatz?“ Joscha trat hinter sie. „Ich weiß ja, wie furchtbar du Elternabende findest … Aber Herr Späh hat für den Abend vor unserem Abflug ein Meeting angesetzt. Kannst du diesmal zu Lasses Klagemütter-Treff gehen?“

      Der Elternabend war wie gewohnt verlaufen: Ein paar Eltern hatten gemosert, dass von ihren Kindern viel zu viel verlangt wurde, andere hatten dagegengehalten, ohne eine vernünftige Ausbildung hätten sie keine Chance, die Lehrerin hatte nichtssagende Floskeln von sich gegeben und zum Schluss fanden alle, man müsse unbedingt gemeinsam in eine nahegelegene Pizzeria wechseln, um in ungezwungener Atmosphäre zu plaudern. Normalerweise hasste Gundi diese larmoyanten Jammerrunden, aber heute war ihr jede Gelegenheit recht, von zu Hause fortzubleiben. Allein bei dem Gedanken, dass dort Frau Birger auf sie lauerte, krampfte sich ihr Magen zusammen.

      Natürlich dauerte es nicht lange, bis die Rede auf die Ferienpläne von Lasses Clique kam.

      „Von mir aus könnte Pascal ganz in Frankreich bleiben – mit Sack und Pack!“

      Überrascht registrierte Gundi, wie Pascals Mutter einen großen Schluck von ihrem Whisky nahm. Ansonsten gönnte diese Trantussi sich doch höchstens einen Prosecco und beschwerte sich dabei ununterbrochen, dass die lieben Kleinen viel zu frühreif und unternehmungsfreudig waren.

      „Macht Ihr Sohn so viele Schwierigkeiten?“, erkundigte sich ein Vater mitfühlend.

      „Ach was. Pascal ist ein braver Junge. Seine Vogelspinne ist es, die mich in den Wahnsinn treibt.“ Pascals Mutter seufzte. „Eigentlich hatte ich angeordnet, dass er bei seiner Geburtstagsparty einen neuen Besitzer für das Tier finden soll. Um ehrlich zu sein, ich habe sogar gedroht, ansonsten würde ich es eigenhändig erschlagen. Zuerst hieß es auch wirklich, einer seiner Kumpels hätte es mitgenommen. Aber drei Tage später war das Biest plötzlich wieder da. Und ausbruchslustig ist es seitdem …“

      „Tja, was soll man machen, wenn der Junge derart vernarrt in seine Spinne ist? Bei uns ist es genauso“, bemerkte der Vater von Sascha.

      „Nicht nur das – ich könnte mich nie überwinden, eine derart fette Spinne totzuhauen.“ Pascals Mutter schüttelte sich und leerte ihr Glas in einem Zug. „Lieber tue ich so, als hätte ich nicht gemerkt, dass Pascal die Bestie wieder in die Wohnung geschmuggelt hat.“

      „Die Teufelsviecher scheinen bei den Jungs echt im Trend zu sein.“ Eine rothaarige Frau zündete sich eine Zigarette an. „Mein Dennis besitzt inzwischen auch eine. Ein Freund von ihm musste sie abgeben. Sogar einen Namen hat sie: Frau Birger.“

      „Und bombardiert hat mich diese Höllenkreatur!“, rief Saschas Vater. „Dabei hab ich ihr überhaupt nichts getan! Ich war nur besorgt, weil sie sich einen ganzen Nachmittag lang nicht bewegte, deswegen habe ich sie mit einem Bleistift angestupst und …“

      „Ist mir auch schon passiert“, unterbrach Pascals Mutter ihn. „Das muss irgendwas in der Spinne ausgelöst haben. Seitdem haut sie dauernd aus ihrem Terrarium ab. Nirgends ist man vor ihr sicher!“

      Gundis Gedanken rasten, als sie die Haustür aufschloss. Also hatte es mit Frau Birger tatsächlich eine besondere Bewandtnis. Indem sie jemanden bombardierte, heftete sie sich wie eine Klette an seinen Alltag, tauchte fortan an den unmöglichsten Stellen auf und materialisierte sich aus dem Nichts heraus. Gab es überhaupt eine echte Frau Birger, die sich auf magische Weise vervielfältigen und an jeden beliebigen Ort zurückkehren konnte? Oder hatte Lasse von Anfang an einen Spinnengeist besessen? Und was wollte das Tier? Sich rächen? Ein sonderlich schönes Dasein hatte es schließlich nicht. Gleich einem Kettenbrief wurde es weitergegeben. Wahrscheinlich hatte ein jugendliches Großmaul es ursprünglich aus einer Laune heraus gekauft und dann ziemlich schnell das Interesse verloren. Seitdem wurde die Spinne von Hand zu Hand gereicht. Suchte sie nun bevorzugt Erwachsene heim, weil sie hoffte, dass die vernünftiger waren?

      Leise betrat Gundi den Flur. Frau Birger saß direkt vor der Garderobe. Gundi überwand ihren Ekel und ließ sich nieder. Sie versuchte sich vorzustellen, was die Spinne im Lauf der letzten Jahre mitgemacht hatte. Das arme Wesen! Wie oft war es vermutlich schon fast verhungert oder verdurstet, erfroren oder unter einer zu heißen Wärmelampe verbrannt, weil ein Besitzer sich nicht richtig informiert hatte. Wie oft war es zu Tode erschrocken, wenn es mal wieder auf einer Party herumgereicht wurde? Was für ein Unding, dass jeder Brausekopf sich ein lebendes Tier kaufen durfte, das ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war! Gundi wollte gar nicht darüber nachdenken, wie viele Hamster, Kaninchen und Wellensittiche durch unsachgemäße Behandlung langsam und qualvoll zu Tode gefoltert wurden. Und ausgerechnet exotische Kaltblütler wie Vogelspinnen oder Schlangen, die besondere Lebensbedingungen brauchten, konnten kaum artikulieren, wenn sie unter einer falschen Pflege litten.

      „Weißt du was, Frau Birger?“, flüsterte Gundi. „Ich werde bei Greenpeace einen Arbeitskreis gründen, der sich dafür einsetzt, dass Haustiere nicht mehr wie Ramschware verkauft werden dürfen.“ Sie kicherte nervös. Himmel, jetzt war sie schon verrückt genug, ein ernsthaftes Gespräch mit einer Spinne zu führen! Und dabei hatte sie doch nur ein einziges Glas Wein getrunken. Nichtsdestotrotz fuhr sie fort: „Jeder, der sich ein Tier zulegt, soll zuerst einen Sachkundenachweis erbringen und zeigen, dass er sich ausreichend informiert hat. Was hältst du davon?“

      Frau Birger stakste gravitätisch auf Gundi zu. Ihr praller Hinterleib hob und senkte sich und ihre Kieferwerkzeuge mahlten. Die orangen Muster auf dem Vorderkörper und den Beinen schimmerten. Gundi seufzte. Ja, solch eine Petition würde wohl erst am Sankt-Nimmerleins-Tag Erfolg haben. Die Lobby der Zoohändler war viel zu mächtig! Schließlich verdienten diese Aasgeier tüchtig, wenn wieder mal ein paar Jugendliche spontan ihr Taschengeld in Kaninchen, viel zu enge Käfige und völlig ungeeignete Tränken aus dem Sonderangebot investierten. Aber egal! Wenn man genügend Öffentlichkeitsarbeit betrieb und eindringlich aufzeigte, wie sehr Tiere unter nicht-artgerechter Haltung litten, würden vielleicht einige Familien dazu übergehen, sich erst ein Handbuch über Kleintierpflege zuzulegen, ehe sie den Wellensittich oder die Rennmaus kauften.

      „Und jedes einzelne Tierschicksal zählt“, murmelte Gundi und kam sich dabei so albern-pathetisch vor wie die Hauptdarstellerin in einem Walt-Disney-Film.

      Sie blickte sich um. Frau Birger war verschwunden. Und dabei hatte Gundi weder gesehen, wie der pelzige Achtbeiner davonhuschte, noch das Klacken der Krallen auf den Fliesen gehört.

      Gundi fühlte sich erstaunlich zufrieden, obwohl Joscha heute nach Kalkutta aufbrach. Sie hatte so gut geschlafen wie schon lange nicht mehr. Und seltsamerweise war ihr nicht zumute, als müsse jeden Moment irgendwo Frau Birger auftauchen. Eine tiefe, behagliche Ruhe erfüllte sie. War ihre nächtliche Séance tatsächlich von Erfolg gekrönt?

      Hatte Frau Birger lediglich herumgespukt, weil sie auf ihr Schicksal und das ihrer Leidensgenossen aufmerksam machen wollte? Suchte sie jemanden, der sich für ihre Belange einsetzte? Ja, so musste es sein. Und Gundi würde ihr Versprechen halten! Noch heute wollte sie die Gründung des neuen Greenpeace-Arbeitskreises in die Wege leiten.

      Gundi schenkte Joscha eine Tasse Kaffee ein. „Pass auf dich auf. Du weißt ja, dein Bluthochdruck …“ Sie lächelte. „Wenn Herr Späh dich wieder zur Weißglut treibt, denk einfach dran, dass du nächstes Jahr nichts mehr mit diesem Lackaffen zu tun hast. Dann arbeiten wir beide in meinem Büro und …“

      „… und du glaubst wirklich, die Vorstellung, den ganzen Tag in deiner Nähe zu sein, bringt mein Blut nicht zum Kochen?“ Joscha musterte Gundi, die in ihrem rot schimmernden Babydoll-Nachthemd