Zwielicht Classic 13. Michael Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745092431
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Lasse und seine Freunde sogar, in den Sommerferien erneut gemeinsam nach Frankreich zu fahren. Ja, der Junge wurde sehr schnell selbständig …

      Leise summend stieg Gundi die Treppe zu ihrem Büro hinab. Ein komplettes Landhaus wollte die neue Kundin mit ihrer Hilfe umbauen! Wenn ihr Architekturbüro weiter so florierte, konnte Joscha tatsächlich nächstes Jahr seine Stelle aufgeben und bei ihr einsteigen. Gundi wusste ja, wie sehr er seine jetzige Arbeit hasste! Protzige Firmen- und Regierungsgebäude entwerfen in Ländern, wo viele Menschen nicht mal ein Dach über dem Kopf hatten … Außerdem waren die ständigen Marathon-Meetings, die Reisen um den halben Erdball und die Zusammenarbeit mit einem cholerischen Chef Gift für Joschas zu hohen Blutdruck. Mochte Joscha auch weiterhin seine üblichen Scherze reißen, man bekäme eben automatisch Herzklopfen, wenn man mit einer so aufregenden Frau wie Gundi verheiratet war – sie wusste, dass seine aktuellen Blutdruck-Werte durchaus Anlass zur Sorge boten. Deswegen hoffte sie, dass sie bald gemeinsam von ihrem kleinen Familienbetrieb mit persönlichen Beratungen in entspannter Atmosphäre leben konnten.

      Gundi schloss die Tür zu ihrem Büro auf. Im nächsten Moment prallte sie entsetzt zurück. Mitten auf dem Schreibtisch stand Frau Birgers Terrarium. Der achtbeinige Krabbler lag wie ein aufgeblähter Ball direkt an der Scheibe.

      „Lasse!“ Gundi stürmte zurück in die Wohnung. Der Himmel mochte wissen, was im Kopf einer Pubertaners vorging, aber eins stand fest – das war zu viel! Sie riss die Kinderzimmertür auf. „Auch wenn du es rasend witzig findest, meine Kunden mit diesem Untier zu erschrecken, ich …“

      Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Auf der Kommode befand sich wie gewohnt das Terrarium. Gleich Tentakeln ragten Frau Birgers Beine aus der Kokosnusshöhle.

      „Gibt’s Stress?“ Lasse, der im Bett lag und in einem Comicheft blätterte, hob den Kopf.

      „Nein, ich dachte … ich … ach, egal.“

      Gundi wandte sich um und erstarrte. Unter dem Flurregal funkelte ihr das Terrarium höhnisch entgegen. Sie rang nach Luft. Dann erkannte sie, dass es sich lediglich um den Werkzeugkasten handelte.

      Benommen stolperte Gundi zurück ins Büro und schaltete mit zitternden Fingern das Licht ein. Der Schreibtisch sah aus wie immer. Hatte sie vorhin im Halbdunkel das Modell eines Penthouse-Apartments für das Terrarium gehalten? Ja, wahrscheinlich. Gundi ließ sich auf den Ledersessel plumpsen und atmete tief durch. Vermutlich waren einfach ihre Nerven überreizt. Seit sie damals Frau Birger füttern musste, hatte sie sowieso ständig Alpträume von dem vermaledeiten Vieh. Kein Wunder: Wenn Lasse und seine Kumpels ihre Frankreich-Pläne wahrmachten, stand ihr in den Sommerferien dieser Horror erneut bevor. Und gestern war ihr Sprössling mit einem Werbeprospekt für ein High-School-Jahr in den USA nach Hause gekommen. Bei der Vorstellung, dass sie womöglich zwölf Monate lang die Spinne versorgen musste, packte Gundi das kalte Grauen. Nein, eindeutig, Frau Birger musste fort!

      „Und du bist sicher, dass Alex sich gut um Frau Birger kümmert?“ Gundi beäugte die Spinne, die unruhig auf und ab marschierte. Die mächtigen Kieferwerkzeuge mahlten. Ganz egal, wie scheußlich das Tier aussah – es tat ihr leid. Klar, Spinnen hingen nicht an ihren Besitzern wie Hunde oder Katzen. Aber trotzdem, es waren lebende Wesen! Bestimmt merkte Frau Birger, dass sie ständig von einem Ort zum nächsten geschafft wurde. Ob sie so etwas wie Furcht empfand, wenn man sie fortbrachte? Ob sie wusste, dass sie hilflos ausgeliefert war?

      Lasse warf Gundi einen gekränkten Blick zu. „Wenn dir so viel dran liegt, dass es Frau Birger gut geht, könntest du …“

      „Es reicht!“ Joscha runzelte die Stirn. „Wir haben uns zur Genüge darüber unterhalten.“

      Ja, das hatten sie: Letzte Woche hatte Gundi den Familienrat einberufen, um zu klären, wie es mit Frau Birger weitergehen sollte. Natürlich war Lasse empört, dass er sich von seiner Gefährtin trennen sollte, aber Joscha sprach mit Engelszungen auf Lasse ein: Es war die Rede davon, wie sehr Gundi momentan durch ihre Arbeit unter Stress stand und dass man Rücksicht nehmen und jede zusätzliche Belastung von ihr fernhalten müsse. Um ehrlich zu sein, Gundi war sich vorgekommen wie eine Patientin in einer Nervenheilanstalt. Aber egal! Letztendlich hatte Lasse eingewilligt, einen neuen Besitzer für Frau Birger zu suchen. Kurz darauf hieß es, Alex, ein Mitglied aus seinem Judoverein, könne das Tier übernehmen.

      Gundi lächelte. Nächstes Jahr, wenn sie und Joscha gemeinsam in ihrem Architekturbüro arbeiteten, würde sie wahrscheinlich nur noch den Kopf schütteln bei der Erinnerung, dass ihr in der kräftezehrenden Anfangsphase sogar eine Spinne wie ein Ungeheuer erschienen war.

      Gundi saß auf der Toilette, als sie plötzlich unter der Heizung etwas Knubbeliges, Schwarz-Orange-Gemustertes entdeckte. Sie atmete hörbar ein. Das Gewirr aus borstigen Beinen, der ballonähnliche Hinterleib und die Beißwerkzeuge waren unverkennbar.

      Verdammt, wie kam Frau Birger hierher? Vor zwei Wochen hatte Lasse das Tier zu Alex gebracht! Der mächtige Spinnenkörper erhob sich. Mit ihren langen, gelenkigen Beinen stelzte Frau Birger direkt auf Gundi zu. Die Krallen klackten leise auf den Fliesen. Gundi spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten.

      Frau Birger wurde immer schneller. Gleich einer dicken, behaarten Knolle hastete sie nun Gundi entgegen. Im letzten Moment zog Gundi ihre bloßen Füße nach oben. Ein Schrei entfuhr ihr. Beinahe wäre Frau Birger direkt über ihre Zehen geflitzt. Dann verschwand sie hinter der Waschmaschine. Gundi zerrte ihre Jeans hoch und stürmte in den Flur. Also hatte sie sich nicht getäuscht! Schon ein paar Mal war sie in den vergangenen Tagen überzeugt gewesen, das flinke achtbeinige Wesen unter einen Türspalt oder einen Schrank huschen zu sehen. Lasse und Joscha hatten sie nur ausgelacht, als sie davon erzählte.

      „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Frau Birger ausgebüxt und zu uns zurückgekommen ist, weil es ihr hier besser gefällt?“, hatte Joscha gesagt. „Bei aller Tierliebe - vergiss nicht, Spinnen verfügen nur über einen sehr begrenzten Verstand. Dass sie wie Hunde ihre ehemaligen Besitzer suchen, ist ausgeschlossen.“ Dann hatte er besorgt einen Arm um ihre Schulter gelegt. „Ehrlich, Schatz, du bist völlig überarbeitet. Wenn ich das Kalkutta-Projekt abgeschlossen habe, fahren wir beide für ein paar Tage zusammen weg, damit du zur Ruhe kommst, okay?“

      Aber nun stand fest, dass Frau Birger irgendwie zurückgekehrt sein musste. Gundi riss die Tür zum Wohnzimmer auf, wo Joscha und Lasse gerade eine Harry Potter-DVD schauten.

      „Stellt euch vor, Frau Birger …“

      „Ach, Frau Birger! Von der soll ich dir übrigens herzliche Grüße ausrichten.“ Lasse schob sich eine Handvoll Chips in den Mund.

      „Was?“ Gundi kreischte beinahe.

      „Ja, ich war vorhin kurz bei Alex. Bei der Gelegenheit hab ich auch nach Frau Birger geschaut. Sie wird immer fetter. Inzwischen sieht ihr Hintern aus, als hätte sie eine Kartoffel am Stück verschluckt.“

      Gundi plumpste auf einen Sessel. Also konnte sie unmöglich Frau Birger gesehen haben. Drehte sie jetzt total durch?

      „Was ist los?“, erkundigte Lasse sich. „Ich dachte, dich interessiert, wie es Frau Birger geht, weil du dir doch solche Sorgen gemacht hast, als wir sie weggegeben haben und …“

      „Schon okay. Schön, dass das Tier jetzt ein gutes Zuhause hat.“

      Gundi hockte in ihrem Büro und zitterte. Immer wieder war in den vergangenen Tagen Frau Birger aufgetaucht: Als Gundi ihren Aktenschrank öffnete, schob sich ihr ein langes, borstiges, schwarz-orange gemustertes Bein entgegen. Beim Bettenmachen sauste die Spinne plötzlich unter einem Kissen hervor. Ein andermal kauerte Frau Birger wie die Gruselversion eines plüschigen Teddybären auf dem Sofa. Inzwischen konnte Gundi kaum noch schlafen. Immer wieder erwachte sie, überzeugt, dass soeben winzige Krallen über ihre Hand getrippelt oder ein haariger Leib an ihrer Wange entlanggestreift waren. Gundi war mit ihren Nerven am Ende. Und zu allem Überfluss hatte sie heute erfahren, dass Joscha nächste Woche für einige Tage nach Kalkutta fliegen musste, um bei den Abschlussverhandlungen für das aktuelle Bauprojekt anwesend zu sein. Dann war Gundi ganz allein dem krabbelnden Ungetüm ausgeliefert! Bisher hatte sie Joscha