Zwielicht Classic 13. Michael Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745092431
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tiefem Bedauern über den Verlust Ihres Ehemannes / Sohnes / Bruders / sonstigen Angehörigen.

      i. A. Stinson, Department of Defence.

      Schreiben des United States Department of Defence an Carla Durst, 19. März 2003.

      Wir werden nicht weiterhin tatenlos zusehen, was ihr unserem Volk antut. Unser Land habt ihr schon getötet, nun kommt ihr her und behauptet, ihr wollt Wiedergutmachung leisten. Wiedergutmachung! Dabei vollendet ihr nur, was ihr vor zehn Jahren begonnen habt. Nach unserem Land tötet ihr nun die Söhne und Töchter unseres Volkes. Schickt sie hinaus in die Strahlung, ungeschützt, mit dem Versprechen einer besseren Zukunft für ihre Kinder, um eure Wundermittel zu verteilen, und wenn sie sterben, verscharrt ihr sie mit euren Baggern und Planierraupen in dem Dreck, der einst ihre Heimat war.

      Wenn ihr in unser Land kommt, um unser Volk zu töten, dann kommen wir in euer Land, um euer Volk zu töten. Wir haben es getan und wir werden es wieder tun. Wir werden es so lange tun, bis euer Land und euer Volk genauso tot sind wie unser Land und unser Volk. Das ist die heilige Aufgabe, die Allah uns aufgetragen hat.

      Aus dem Bekennervideo der Somali Vengeance Force zu den Selbstmordanschlägen in San Francisco, Dallas und Chicago, 09. November 2003.

      Das Norwegische Nobelkomitee hat sich entschieden, den Friedensnobelpreis des Jahres 2003 zu vergeben an Ashton Julian Jacobs für seine andauernden Bemühungen und Fortschritte, die „Wunden der Welt zu heilen“. Jacobs hat im wahren Sinne seine Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet. Er hat seine Soldaten in die Welt hinausgeschickt, aber nicht als Krieger, als Eroberer oder Unterdrücker, sondern als demütige Helfer, als unermüdliche Verbesserer, als Freunde. Diesem weisen und umsichtigen Einsatz großer Macht gebührt die Anerkennung und Wertschätzung der gesamten Menschheit, die das Komitee mit der Vergabe des Preises stellvertretend zum Ausdruck bringen möchte.

      Aus der Ansprache des Vorsitzenden des Norwegischen Nobelkomitees zur Vergabe des Friedensnobelpreises, 10. Dezember 2003.

      Somit kann also festgestellt werden, dass die Felderprobung unserer technologischen Fortschritte in den Bereichen der Chemie, Biologie und Nanotechnologie zur Dekontamination radioaktiv verstrahlter Gebiete im Rahmen der Operation Heal als voller Erfolg anzusehen ist. Innerhalb von zwei Jahren war es möglich, das durch den Blackburn-Vorfall seit 1993 menscheninkompatible Gebiet soweit zu regenerieren, dass der Einsatz periodisch abzulösender Facharbeits- und Sicherungsmannschaften sowie die dauerhafte Ansiedlung lokaler Subjekte zur Verrichtung grundlegender Arbeiten möglich sind.

      Dadurch erweitert sich das operative Arsenal der Vereinigten Staaten im Konflikt um staatstragende Ressourcen um die Option lokal begrenzter taktischer Nuklearschläge zur Vorbereitung Ressourcen sichernder Operationen.

      Aus dem streng geheimen Abschlussbericht des Befehlshabers der Operation Heal, Lieutenant General Nicholas K. Talbot, 13. Dezember 2003.

      Nadine Muriel – Frau Birger (2015) 30

      „Man ist nur so alt, wie man sich fühlt“, stand auf der Tasse. Gundi hätte sie am liebsten gegen die Wand gepfeffert. Wenn es danach ging, wäre Gundi momentan mindestens hundert. Sie presste ihre Hand gegen die Stirn und nippte an ihrem Pfefferminztee. Offenbar hatten sie und Joscha gestern mit etwas zu viel Rotwein auf ihren zwanzigsten Hochzeitstag angestoßen. Und spät war es geworden! Das Essen war erst weit nach Mitternacht fertig gewesen, denn bereits beim Zubereiten der Kürbissuppe hatten Gundi und Joscha herumgeknutscht wie zwei hormongeplagte Teenager. Und nach der Vorspeise waren sie auf der Küchenbank übereinander hergefallen und hatten sich leidenschaftlich geliebt. Die Gemüselasagne, die eigentlich in den Ofen sollte, war vergessen. Schließlich hatten sie es ausnutzen müssen, dass Lasse, ihr Sohn, ausgerechnet an ihrem Hochzeitstag zur Geburtstagsparty eines Klassenkameraden eingeladen war.

      Inzwischen bezweifelte Gundi jedoch, ob sie den gestrigen Abend als gelungen bezeichnen sollte. Nicht nur ihr Kopf, sondern auch ihr Rücken schmerzte nach den Verrenkungen auf der Küchenbank, als hätte sie ein Rodeo bestritten. Und wenn sie dieses Biest sah, das Lasse von der Party mitgebracht hatte, wünschte sie, der Junge hätte den Abend vor dem heimischen Fernseher verbracht. Argwöhnisch beäugte Gundi die schwarz-orange gemusterte, etwa handtellergroße Vogelspinne, die in ihrem Terrarium hockte und pelzig wie ein Flokati aus einem Horrorkabinett aussah. Der pralle Hinterleib glich einer zuckenden Beule. Gemächlich streckte die Spinne ein borstiges Bein vor. Gundis Magen rebellierte.

      Auch Joscha betrachtete den neuen Mitbewohner mit sichtlichem Unbehagen. „Hättest du nicht vorher fragen können, ob Mama und ich mit einem Haustier einverstanden sind?“, knurrte er.

      „Aber Papa!“ Lasses Stimme bebte vor Empörung. „Pascals Mutter hat gesagt, wenn die Spinne nicht im Laufe von drei Tagen verschwunden ist, bringt sie sie um. Das hat Pascal uns gestern erzählt. Und außer mir wollte niemand das Vieh mitnehmen. Alle hatten Angst, dass es zu Hause Zoff gibt.“

      Gundi warf Joscha einen hilflosen Blick zu. Natürlich: Als überzeugte Greenpeace-Aktivisten hatten sie ihrem Kind stets eingetrichtert, allen Lebewesen mit Respekt zu begegnen. Ameisen werden nicht aus Spaß zertreten, Käfer trägt man nach draußen, statt sie zu töten, jedes Tier hat seinen Nutzen und so weiter. Die verletzte Amsel vom Spielplatz hatten sie gemeinsam mit Lasse ebenso liebevoll gepflegt wie das halbwahnsinnige Meerschweinchen, das ein Kollege von Joscha nicht mehr haben wollte. Aber hätte ihr Sohn statt einer Vogelspinne nicht ein putziges Welpchen oder Kätzchen retten können? Um ehrlich zu sein, Gundi konnte durchaus verstehen, dass Pascals Mutter dieses Ungetüm nicht tagein, tagaus um sich haben wollte. Aber solch ein Theater zu veranstalten … Das war typisch für diese Prosecco schlürfende Edelzicke! Nein, Gundi würde ihrem Grundsatz treu bleiben, dass jedes Tier, egal ob schön oder nicht, Achtung verdiente. Sie zwang sich zu einem Lächeln.

      „Hat deine neue Freundin schon einen Namen?“

      „Klar. Frau Birger. Wie unsere Sportlehrerin.“ Lasse grinste. „Weil sie genauso behaarte Beine hat.“

      Eine neue Schmerzwelle flammte durch Gundis Nacken, als sie nach der Brötchentüte griff. Nein, sie wollte jetzt keine Grundsatzdiskussion mit ihrem pubertierenden Sprössling führen – weder über Gender-Klischees, noch darüber, ob eine exotische Vogelspinne wirklich ein geeignetes Haustier für einen siebzehnjährigen Knaben war.

      Vier Wochen waren seit Frau Birgers Einzug vergangen. Angewidert betrachtete Gundi das Heimchen, das in der Pinzette zappelte. Lasse hatte ihr genau gezeigt, wie man Frau Birger fütterte, ehe er zum dreiwöchigen Schüleraustausch nach Frankreich aufgebrochen war. Gundi war dankbar, dass Spinnen bloß alle paar Wochen frische Nahrung brauchten, sodass sie diese Prozedere nur einmal durchführen musste. Noch selten hatte sie sich so geekelt. Vorsichtig schob sie die vordere Wand des Terrariums beiseite. Frau Birger, die zusammengekauert vor ihrer halbierten Kokosnussschale kauerte, spreizte die Beine. Es sah aus, als ob eine fleischige Blüte sich entfaltete. Dann schien sie plötzlich beleidigt aufzustampfen. Fussel wirbelten auf. Ein brennender Schmerz durchzuckte Gundis Hand. Sie schrie auf und ließ das Heimchen fallen. Sofort sauste es unter den Nestfarn. Frau Birger krabbelte in ihre Kokosnuss. Ihr kahler Hinterleib glänzte wie poliert. Gundi umklammerte ihr Handgelenk. Nun hatte diese Höllenkreatur sie bombardiert! Auch das hatte Lasse ihr erklärt: Wenn eine Vogelspinne sich bedroht fühlte, beschoss sie den vermeintlichen Angreifer mit Reizhaaren von ihrem Hinterleib.

      „Es ist nicht schlimmer oder gefährlicher, als eine Brennnessel anzupacken“, hatte er gesagt. „Außerdem passiert es dir bestimmt nicht. Mich hat Frau Birger noch nie bombardiert. Dazu ist sie viel zu faul.“

      Gundi presste die Lippen aufeinander. Verdammt, es gab keinen Grund, sich so anzustellen! Wenn eine Katze sie gekratzt hätte, würde sie ja auch grinsend darüber hinwegsehen. Aber die Vorstellung, dass nun winzige Spinnenborsten in ihrer Haut steckten, war mehr als widerlich.

      Aus Lasses Zimmer dröhnte Musik. Seit der Frankreich-Tour hörte der Junge dauernd Metal-CDs, die seine Austauschpartnerin ihm gebrannt hatte. Insgesamt war die Fahrt ein voller Erfolg gewesen: Mit seiner Gastfamilie hatte Lasse sich bestens verstanden